Profil: Bilanz des Falles Olivia
Profil, 22.08.2005
Bilanz des Falles Olivias
Krebs. Vor zehn Jahren lieferten sich Eltern und Mediziner einen verzweifelten Streit um das krebskranke Mädchen Olivia. Ein Lehrstück über medizinische Ethik, elterliche Verantwortung und den Überlebenskampf von Kindern.
Von Irene Jancsy
Der Kampf um ein krankes kleines Mädchen, der Österreich einen ganzen Sommer lang in Atem halten sollte, begann an einem Wochenende. An einem Freitag im Mai 1995 wurde die damals sechsjährige Olivia ins St.-Anna-Kinderspital in Wien eingeliefert. Diagnose: Wilms-Tumor, kindlicher Nierenkrebs. Nun hieß es warten. Drei lange Tage, bis die Experten am Montag über die Behandlung entscheiden konnten.
Ob alles anders gekommen wäre, hätte die Überstellung aus Niederösterreich unter der Woche stattgefunden, ist längst nicht mehr zu klären. Fest steht, dass Olivias Eltern, damals 28 und 30 Jahre alt, während dieser drei endlosen Tage ihr Vertrauen in die Schulmedizin verloren haben – total und unwiderruflich. Konfrontiert mit einer unerwarteten Krebsdiagnose, verängstigt und verwirrt von unterschiedlichen Aussagen des täglich wechselnden Wochenpersonals, umgeben von erbarmungswürdigen kleinen Chemo-Patienten, war bei dem Paar innerhalb weniger Stunden die Überzeugung gereift, dass die Mediziner in diesem Haus ihrem kranken Kind mehr schaden als helfen würden.
Medienspektakel. Zehn Jahre sind seither vergangen. Der „Fall Olivia“ war ein mediales Sommerspektakel erster Güte und brachte weit über die österreichischen Grenzen hinaus die Emotionen zum Überschäumen. Kein Wunder, die Besetzung des Reality-Dramas bot Identifikationsfiguren und Hassobjekte für jedermann: ein dubioser, monomaner Alternativmediziner mit seltsamen Krebstheorien, eine Armada selbstbewusster Götter in Weiß, in ihrer Angst und Verunsicherung fanatisierte Eltern – und mittendrin ein entzückendes kleines Mädchen, den Bauch von der fürchterlichen Krankheit gebläht.
Am dem Augenblick, als die Eltern mit ihrer Tochter am Sonntagabend das Kinderspital gegen den Willen der Ärzte verließen, standen die Zeichen auf Eskalation. Die Eltern kontaktierten den umstrittenen Krebsheiler Ryke Geerd Hamer in Köln. Der versprach prompt, den Tumor auch ohne Chemotherapie verschwinden zu lassen. Die von den Ärzten alarmierten Behörden erkannten den Eltern das Sorgerecht für Olivia ab. Es folgte die Flucht der fünfköpfigen Familie ins südspanische Málaga, ein Appell des Bundespräsidenten, im Juli dann eine dramatische, von der Öffentlichkeit minutiös verfolgten Rückholaktion, der kurzfristige Hungerstreik der Eltern und schließlich die Therapie im Wiener AKH – gegen den Willen der Angehörigen und unter Ausschluss des Vaters aus dem Krankenzimmer.
Vor fünf Jahren wurde Olivia endgültig aus der Behandlung entlassen – und gilt als geheilt. Hin und wieder stellen Journalisten dem Mädchen in seinem Wohnort in Niederösterreich nach: Olivia scheint es gut zu gehen. Die Familie gibt sich wortkarg. „Wir sind an einem Bericht nicht interessiert“, lässt der Vater auf Anfrage wissen. Und: „Wenn ich einen neutralen und objektiven Artikel über Dr. Hamer zu lesen bekomme, dann und nur dann können wir weiter verhandeln.“ Die Fronten sind festgefahren, wie vor einem Jahrzehnt.
Aber nicht in erster Linie deswegen bleibt der „Fall Olivia“ brisant. „Wunderheiler“ Hamer, der zurzeit in Frankreich eine dreijährige Haftstrafe wegen Betrugs und illegaler medizinischer Tätigkeit absitzt, hat sich endgültig als irrwitziger Verschwörungstheoretiker entpuppt. Aber viele Fragen, die vor einem Jahrzehnt durch den Streit um die Therapie des Mädchen aufgeworfen wurden, sind nach wie vor offen: Wie viel Freiheit steht Eltern zu, wenn es darum geht, in medizinischen Fragen für ihr Kind zu entscheiden? Gibt es glaubwürdige alternative Ansätze für die Heilung von Krebs? Welche Spätfolgen körperlicher und psychischer Art haben Kinder nach einer Chemotherapie zu erwarten? Können aus dem „Fall Olivia“ irgendwelche Lehren gezogen werden?
Konsequenzen. Der Leiter des St.-Anna-Kinderspitals, Helmut Gadner, beantwortet zumindest die letzte Frage mit einem klaren Ja. Als konkreten Schritt hat er bald nach dem aufsehenerregenden Fall veranlasst, dass onkologische Neuaufnahmen über das Wochenende durchgehend von ein und demselben Facharzt betreut werden. Tumorpatienten würden besonders oft an Freitagen an die spezialisierten Kliniken überstellt – ein Phänomen, das sich, so Gadner, weltweit beobachten lässt. „Wir haben deutlich verstanden, wie wichtig für die Eltern gerade in diesen ersten Tagen die Kontinuität in der Betreuung ist“, versichert Gadner. Nach dem ersten Schock, den die Diagnose Krebs für die Eltern bedeutet, gehe es in erster Linie darum, zu beruhigen und sachlich zu informieren. Beides ist nicht immer leicht zu einem Zeitpunkt, wenn viele der für eine genaue Abklärung notwendigen Untersuchungen erst bevorstehen.
Pro Jahr erkranken in Österreich 200 bis 250 Kinder und Jugendlicher an Krebs, rund ein Drittel davon an Leukämie. Mit ihrer totalen Ablehnung der ärztlichen Therapievorschläge bleiben Olivias Eltern aber ein krasser Einzelfall. „Es gibt sehr wenig radikale Eltern“, bestätigt Anita Kienesberger, Geschäftsführerin des Dachverbands der Österreichischen Kinderkrebshilfe: „In dieser Extremsituation riskiert normalerweise niemand, die Schulmedizin zu verweigern.“
Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Behandlungen mit Chemie und Strahlen tauchen eher schon einmal während langfristiger Therapie auf, vor allem bei kranken Jugendlichen. Letztlich gelingt es den Medizinern aber doch fast immer, ihre Patienten vom potenziellen Nutzen der beschwerlichen Kur zu überzeugen. Das Netz um die minderjährigen Patienten ist jedenfalls eng gespannt. Wer nicht zur vorgesehenen Untersuchung oder zur Fortführung der Behandlung erscheint, wird über das Jugendamt per Anruf oder Brief kontaktiert.
Erfolgsgeschichte. Gadners hartnäckiger Optimismus ist in der Statistik der kindlichen Krebserkrankungen begründet: Die Überlebenschancen für Kinder mit der aggressiven Zellerkrankung sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich gestiegen. Während die Wirksamkeit der Chemotherapie für verschiedene Krebsarten des Erwachsenenalters auch von seriösen Wissenschaftler immer wieder in Zweifel gezogen wird, ist der Einsatz der Giftkur bei Kindern eine beachtliche Erfolgsgeschichte: Drei von vier minderjährigen Krebspatienten überleben heute – wobei die Chancen je nach Krebsart stark variieren. So ist etwa die kindliche Leukämie – vor ein paar Jahrzehnten noch ein sicheres Todesurteil – heute zu fast 90 Prozent heilbar.
Ein Wilms-Tumor, wie er bei Olivia vor zehn Jahren diagnostiziert wurde, kann in neun von zehn Fällen ausgeheilt werden. Eine vierwöchige Chemotherapie, schätzt Gadner, hätte nach Olivias Aufnahme im Kinderspital ausgereicht, den Tumor schrumpfen zu lassen, um ihn anschließend operativ zu entfernen. Während der wochenlangen Odyssee des Mädchens war der Tumor dann auf 6000 Milliliter angewachsen und so groß wie ein Fußball – Olivias Heilungschancen waren zu Zeitpunkt ihrer Rückkehr aus Spanien deutlich reduziert.
Eine neuerliche Aufnahme im St.-Anna-Kinderspital wäre damals nicht möglich gewesen, erinnert sich Kienesberger, die zu jener Zeit als Leiterin des Pflegepersonals auf der onkologischen Intensivstation tätig war: „Die Angehörigen unserer Patienten waren extrem aufgebracht, es herrschte großes Unverständnis für die Haltung der Eltern Olivias.
Aus Sicht der Kinderonkologen war das nicht überraschend. Weit öfter als mit Therapieverweigerung sehen sie sich im Klinikalltag mit dem gegenteiligen Problem konfrontiert: Eltern, die weitere Therapieversuche einfordern, auch wenn die Mediziner die Hoffnung längst aufgegeben haben. „Es ist nicht leicht, den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören zu finden“, sagt Gadner. Seine Strategie: die Fakten auf den Tisch legen und mit allen Beteiligten – Ärzten, Eltern, Psychologen, Pflegepersonal – besprechen. Und immer seien es die Eltern und die Patienten, die weitere Therapieversuche fordern. „Manche der Kinder reagieren sehr schlecht darauf, wenn sie merken, dass die Ärzte nichts mehr machen“, erzählt Kienesberger. In diesen schweren Momenten gibt es kaum Eltern, die nicht nach Alternativen suchen – auch solchen abseits der Schulmedizin. Auch Fritz Hausjell, Vizeobmann der Kinderkrebshilfe, machte diese Erfahrung, als sein eigener Sohn vor neun Jahren im St.-Anna-Kinderspital im Sterben lag: „Man möchte sich später nicht vorwerfen, nicht alles versucht zu haben.“ Obwohl sein Vertrauen in die Schulmedizin durchaus gefestigt ist, wandte er sich damals auch an eine traditionelle Heilerin.
Viele Eltern suchen für ihre kranken Kinder Hilfe auch außerhalb der Schulmedizin – meist mit schlechtem Gewissen und ohne den Ärzten davon zu erzählen. Eine aktuelle Untersuchung der Kinderkrebshilfe zeigt, dass rund 80 Prozent der Eltern krebskranker Kinder während oder nach der Therapie auch auf andere Heilmethoden zurückgreifen. Das Bedürfnis, aus der passiven Rolle des Hoffens und Bangens auszubrechen und selbst etwas zu unternehmen, ist enorm.
Umdenken. In vielen Krankenhäusern hat Umdenken bereits eingesetzt. Seit Jahren arbeitet etwa im St.-Anna-Kinderspital eine in Komplementärmedizin ausgebildete Ärztin. Die Kinderonkologie in Klagenfurt hat seit Jahren eine homöopathische Sprechstunde eingerichtet. „Besser es gibt diese Experten im Haus, als die Patienten geraten außerhalb an jemanden mit mangelnder Kompetenz“, resümiert Kienesberger. Olivias charismatischer „Wunderheiler“ war allen eine Warnung.
Die Palette der in Frage kommenden Heilmethoden reicht von der Homöopathie bis zur Akupunktur und Kienesiologie, einer Bewegungstherapie, welche die körpereigenen Energieströme zu beeinflussen sucht. Allerdings: In erster Linie geht es dabei um eine Linderung von Schmerzen und Nebenwirkungen, um eine Stärkung des gesamten Organismus – Heilungsversprechen sind von seriösen Komplementärmedizinern nicht zu hören.
„Ich würde nicht behaupten, dass ich einem Kind die Chemotherapie ersparen kann“, sagt der in Eisenstadt tätige Arzt und Homöopath Peter König, der immer wieder Krebspatienten aus dem St.-Anna-Kinderspital behandelt. Vor allem im Intervall mit der Chemotherapie und als Unterstützung nach dem Ende der schulmedizinischen Behandlung sieht er Raum für sein Fach. „Nach Abschluss einer Therapie hat die Schulmedizin nicht mehr viel anzubieten“, sagt König. „Vielen Eltern ist das zu wenig, die Angst vor einem Rückfall ist ja immer präsent.“ Grundsätzlich glaubt er daran, dass bei manchen Krebspatienten auch eine ausschließlich homöopathische Therapie Sinn machen kann. Nicht aber bei Kindern. Zu überzeugend seien die Erfolge mit der Chemotherapie. König: „Ich würde im Fall von Krebs auch mein eigenes Kind der Schulmedizin anvertrauen. Das ist in diesen Fällen heute auf jeden Fall der richtige Weg.“
Überlebende. Aus vielen Kindern, die Krebs überlebt haben, sind längst Erwachsene geworden. „Survivors“ nennt sich eine im Vorjahr ins Leben gerufene Plattform von Menschen, zu deren Kindheits- und Jugenderinnerungen auch Chemotherapie und lange Spitalsaufenthalte zählen. Obwohl sie längst als geheilt gelten, bleibt die Krebserkrankung wesentlicher Bestandteil ihres Lebens: Ob beim Abschluss einer Lebensversicherung oder Bankkredits, bei der Arbeitssuche oder bei ersten intimen Begegnungen – immer wieder werden sie mit der lange zurückliegenden Krankheit konfrontiert. Und viele haben immer noch Probleme, mit den Folgen der lebensbedrohenden Situation umzugehen – auch wenn die eigentliche Krankheit längst überwunden ist. Und auch die Betroffenen müssen oft erst lernen, sich ihrer Geschichte zu stellen. „Es hat lange gedauert, bis ich mich traute, über meine Krankheit zu sprechen“, sagt Iris Rathberger, 33, eine der Mitbegründerinnen der österreichischen „Survivors“-Gruppe. Mit elf Jahren war sie an einem Ewig-Sarkom erkrankt, einem Tumor, der meist die Knochen befällt, mit 14 erlitt sie einen Rückfall.
„Augen zu und durch“, beschreibt Rathberger ihre Einstellung zu den monatelangen Chemotherapien. Als alles längst vorbei war, mit 20 Jahren, kam die Krise. „Ich konnte zuerst gar keinen Zusammenhang zu der Krebserkrankung herstellen“, erzählt sie. Erst eine Psychologin des St.-Anna-Kinderspitals konnte ihr weiterhelfen. Neben einer Vielzahl – noch kaum erforschten – körperlichen Folgen hinterlässt die Grenzerfahrung der Chemotherapie bei Kindern auch psychisch fast immer Spuren. Selten verläuft die Entwicklung ins Erwachsenenleben völlig geradlinig. Bei den meisten dauert es eine Zeit, bis sie die Kraft finden, sich das einzugestehen.
Rathberger hat gelernt, unbefangen mit dem Thema umzugehen. Von der Schulmedizin hat sich die junge Frau mittlerweile abgewandt. Nach Abschluss der Rückfallbehandlung suchten ihre Eltern auch Hilfe beim Homöopath König. Außerdem brachten sie das Mädchen regelmäßig zu einer alten Heilerin in Oberösterreich, die ihr die Hand auflegte. Heute ist die junge Frau überzeugt, dass ein weiterer Rückfall letztlich dadurch verhindert werden konnte. Mit anderen „Survivors“ führt sie darüber hitzige Debatten.
Möglicherweise wird auch Olivia eines Tages das Bedürfnis verspüren, über ihre Geschichte zu sprechen. Über ihre Erinnerungen an jenen Sommer, als sie mit ihren Eltern und Geschwistern im spanischen Málaga im Blitzlicht der Fotografen stand. Und vielleicht wird auch sie dann ihre Meinung kundtun, über die Schulmedizin und über „Wunderheiler“.
Heiler oder Antisemit?
Der in Frankreich wegen Betrugs inhaftierte „germanischer Krebsheiler“ Ryke Geerd Hamer, der Olivia vom Krebs zu erlösen versprach, entpuppt sich als kruder Verschwörungstheoretiker.
Es war auf den ersten Blick eine biedere Truppe, die da vergangenen Mai durch die deutsche Universitätsstadt Tübingen marschierte: Rund 1000 Anhänger des selbst ernannten Krebsheiler Ryke Geerd Hamer ließen bunte Luftballons in den Himmel steigen, hielten selbst gebastelte Transparente in den Regen und forderten die Legalisierung der von Hamer geschaffenen „Germanischen Neuen Medizin“.
Keine Spur von rechten Glatzen – und doch hatte auch die örtliche Antifa-Truppe zum Protest mobilisiert. „Hamer ist nichts anderes als ein dumpfer Antisemit“ warnte sie auf ihren Flugblatt. „Schluss mit dem Holocaust der SCHULD-Medizin!“, konterten die Pro-Hamer-Demonstraten via Transparent.
Antifaschistische Aktivisten und Sektenbeobachter haben den „Heiler“ seit längerem unter Beobachtung. Hamer selbst sitzt derzeit in Frankreich eine dreijährige Haftstrafe wegen Betrugs und illegaler Ausübung der Medizin ab. Geklagt hatten Angehörige mehrerer, nach Hamers Methoden behandelten und mittlerweile verstorbener Krebspatienten. Von der Gefängniszelle aus führt der 70-Jährige den Kampf um seine Lehre von einer Krebsheilung ohne Strahlen und Chemie weiter: Er schreibt inbrünstige Briefe an Behörden, Institutionen und an die „Freunde der Germanischen Neuen Medizin“.
Auszüge aus diesen Korrespondenzen sind auf den Websites seiner Anhänger zu lesen, zu deren treuesten Olivias Vater zählt. Die Internet-Recherche zu Ryke Geerd Hamer führt aber auch weiter, direkt in eine Welt voll krauser Verschwörungstheorien und antisemitischer Paranoia. Im Sinne der „Volksaufklärung“ wird etwa auf einer einschlägiger Website darauf hingewiesen, dass Hamer in einem Gefängnis in Form des Davidsterns sitze. Der Beweisführung dient eine mit blauem Stern übermalte Luftaufnahme der – schlicht sechseckigen – Haftanstalt.
Im Laufe der Jahre hat Hamer um seine medizinischen Thesen ein bizarres ideologisches Konstrukt errichtet. Hamers Thesen sind unterschiedlich expliziert formuliert, haben im Kern aber immer dieselbe Botschaft: „Die Juden überleben Krebs zu 98 Prozent.“ Warum? Weil sie die Krankheit, so Hamers fixe Idee, seit 20 Jahren nach den Prinzipien der „Germanischen Neuen Medizin“ therapieren. Auf der Website von Olivias Vater kommt der Heiler so zu Wort: „Wir Nichtjuden möchten, bitte schön, auch mit unserer Germanischen Neuen Medizin behandelt werden dürfen.“ Alles klar.
Die ideologischen Zwischentöne von Hamers Thesen blieben bisher unbeachtet. Als das Schicksal der kleinen Olivia vor zehn Jahren das mediale Sommerloch füllte, konnte der umstrittene „Wunderdoktor“ so manche Kritiker der Schulmedizin beeindrucken. Er wurde in Talk-Shows hofiert und von den Medien belagert. Die Grüne Abgeordnete Madeleine Petrovic interessierte sich für die Lehre des alternativen Heilers – wenn auch nur kurzfristig. Vor vier Jahren spürte die Illustrierte „News“ den Mann im südspanischen Exil auf; wenig später forderte Aristo-Medizinerin Therese Schwarzenberg – ebenfalls via „News“ – gar den Nobelpreis für Hamer.
Das entspricht in etwa auch der Selbsteinschätzung des ehemaligen Internisten. Er hält sich für ein verfolgtes Genie, zürnt dem „Rabbinergericht“ in Koblenz, das ihm in den achtziger Jahren die Approbation als Arzt entzog, wettert gegen die „jüdische so genannte Schulmedizin“ und die „Logenjustiz-Diktatur“. Im Diskussionsforum seiner Internetseite klagt er: „Meine Gegner stehlen wie die Raben – und am Ende soll dieses wunderbare Göttergeschenk dann vielleicht jüdische Medizin heißen. Wir Nichtjuden werden gezwungen, weiterhin die jüdische Schulmedizin zu praktizieren.“ Der Eintrag wurde geflissentlich wieder entfernt – ist aber von anderen Foren übernommen worden.
Ob all die Mails und Briefe, die da unter Hamers Namen und Briefkopf im Internet kursieren, tatsächlich von ihm persönlich stammen? Letztlich sei das kaum nachzuprüfen, sagt Ingo Heinemann von einer bundesweiten Beobachtungsstelle für „Sekten, Kulte und den Psychomarkt“ mit Sitz in Bonn. Große Zweifel hat er darüber aber keine: „Ich bin überzeugt, dass der Kerl ein massiver Antisemit ist.“ Distanziert hat sich Hamer von den Briefen bisher jedenfalls nicht.
„Alptraum gelöst“
Die Wiener Kinderärztin Marina Marcovich, 53, über ihre Vermittlung zwischen Olivias Eltern und der Schulmedizin.
Die Wiener Kinderärztin war ursprünglich durch die von ihr praktizierte sanfte Behandlung von Frühchen bekannt geworden. Männliche Kollegen im Wiener AKH warfen ihr daraufhin vor, sie gefährde durch ihre Ablehnung der High-Tech-Medizin das Leben von Frühgeborenen. Im Juli 1995 wurde Marcovich als Ärztin der Flughafenambulanz nach Spanien beordert, um dort das krebskranke Mädchen und deren Eltern heim nach Wien zu holen.
Profil: Wie kamen Sie im Juli 1995 zu Ihrer Rolle als Vermittlerin im Fall Olivia?
Marcovich: Durch meine Tätigkeit bei der Flughafenambulanz. Ich wurde, wie so oft, eines Abends angerufen: Da hieß es nur, es sei ein Kind aus Spanien abzuholen. Erst am Flughafen erfuhr ich, dass es sich um diese seltsame Geschichte handelte. Der Flug wurde dann auf den nächsten Tag verschoben, weil Olivia noch gar nicht gefunden war.
Profil: Wie war Ihr erstes Zusammentreffen mit Olivia und ihren Eltern?
Marcovich: In Málaga traf ich dann auf diese enorm unter Druck stehende Familie. Die Eltern fürchteten sich vor den österreichischen Behörden mindestens genauso wie vor der Chemotherapie. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass sie von Ryke Geerd Hamer, dem sie sich ja anvertraut hatten, auf eine unangenehme Art gegängelt wurden.
Profil: Was machte Hamer?
Marcovich: Wenn ich mit Olivias Eltern sprechen wollte, ging er dazwischen und antwortete an ihrer Stelle. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es ihm in erster Linie um das Wohl des kranken Kindes ging. Als sich nach einem Gerichtstermin die Reporter auf uns stürzten, zerrte er die Kleine vor die Kameras. Das Mädchen war zu diesem Zeitpunkt extrem erschöpft, es hätte dringend Ruhe gebraucht.
Profil: Wie gelang es Ihnen, sich bei Olivias Eltern Gehör zu verschaffen?
Marcovich: Ich hatte von Anfang an kein Problem, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen. Als Erstes versuchte ich, ihnen diesen enormen Druck zu nehmen. Wir waren uns dann bald einig, dass Olivia auch in einem spanischen Krankenhaus behandelt werden kann. Leider trafen wird dort auf einen sehr unsensiblen Arzt, der das Kind grob anpackte. Damit waren die Eltern sofort wieder bei ihrem Nein. Solche Entscheidungen werden ja oft innerhalb weniger Sekunden getroffen.
Profil: Sie flogen also zunächst ohne Olivia wieder zurück nach Wien.
Marcovich: Kaum war ich zurück, rief mich Hamer an, um drei Uhr in der Nacht. Er hatte offenbar kalte Füße bekommen. Nun meinte auch er, es wäre aus verschiedenen Gründen besser, wenn Olivia zurück nach Wien käme. In der nächsten Nacht holten wir sie dann.
Profil: Die Familie wehrte sich nicht mehr?
Marcovich: Überhaupt nicht. Es war sehr berührend zu sehen, wie sich die Situation an Bord des Flugzeugs plötzlich entspannte. Die ganze Befindlichkeit der Familie war mit einem Mal verändert. Es war, als hätte sich der Alptraum gelöst. Zum ersten Mal sah ich sie lächeln. Sie waren völlig erschöpft und schliefen ein.
Profil: Können aus diesem Fall irgendwelche Lehren gezogen werden?
Marcovich: Ich habe mich immer wieder gefragt: Wie ist man diesen Menschen begegnet, damit sie sich mit einem kranken Kind in einem schmuddeligen Hotel in einem fremden Land verstecken? Aus meiner Sicht war die ganze Geschichte kein medizinisches Problem, sondern ein zwischenmenschliches. Ich hoffe sehr, dass es Olivia und auch ihren Eltern heute gut geht.
Krebs bei Kindern
Die Zahl der Krebsfälle bei Kindern steigt jährlich um etwa ein Prozent. In Österreich überleben die Krankheit 75 Prozent der kleinen Patienten.
In Österreich erkranken pro Jahr 220 bis 250 Kinder und Jugendlicher an Krebs, etwa ein Drittel davon an Leukämie. An zweiter Stelle der kindlichen Krebsarten stehen Hirntumoren, gefolgt von Lymphknotenkrebs, Tumoren des zentralen Nervensystems, Nierenkrebs und Weichteiltumoren. Bei Jugendlichen sind es zumeist Tumoren der Knochen und der Keimdrüsen.
Bösartige Erkrankungen und Tumoren bei Kindern unterscheiden sich in mehrerer Hinsicht von denen bei Erwachsenen. Die meisten Krebsarten, von denen Kinder betroffen sind, kommen in späteren Lebensabschnitten gar nicht oder nur sehr selten vor. Manche kindliche Tumoren sind feingeweblich durch Zellen embryonalen Ursprungs gekennzeichnet.
Einer Ende vergangenen Jahres veröffentlichten Studio zufolge steigt die Zahl der Krebsfälle bei Kindern in Westeuropa jährlich um ein, bei Jugendlichen um eineinhalb Prozent. Gleichzeitig sind aber auch die Heilungschancen höher geworden: In Österreich überleben heute 75 Prozent der an Krebs erkrankten Kinder. Weltweit sinkt die Überlebensrate von Kindern mit bösartigen Erkrankungen allerdings auf 20 Prozent.