Olivia, elf und genesen:
"Keine Nachricht ist eine gute Nachricht"
Die Presse, 6. Mai 2000
Die krebskranke Sechsjährige, deren Eltern der Schulmedizin mißtrauen, ist mittlerweile elf und gesund. Olivia ist eine Schülerin wie viele andere ihres Alters.
Von Michael Lohmeyer
WIENER NEUSTADT. Staub liegt auf den Aktendeckeln nur deshalb nicht, weil im Amt Zeit genug bleibt, die Akten zu archivieren. Ordentlich und sauber. Sonst wäre die Staubschicht schon dick. Denn im Akt zum "Fall Olivia" ist schon lange nicht mehr geblättert worden – hat schon lange nicht mehr geblättert werden müssen.
Für das Jugendamt der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt ist der Fall der heute elf Jahre alten Olivia eine Routineangelegenheit. Genaugenommen nicht einmal das: Der Fall, der vor fünf Jahren Heerscharen von Journalisten, Bildreportern und Gaffern in ein verschlafenes Nest unweit der Bezirksmetropole Wiener Neustadt gespült hat, sie dort ein Haus hat belagern lassen, dann – auf der Jagd nach Sagern, O-Tönen und Bildern – durch die Bezirkshauptmannschaft den Nebel medialer Wichtigkeit hat ziehen lassen, dieser Fall ist längst Aktuellem, Neuem in undurchdringliche Schichten des Vergessens gewalzt worden.
Also ein Blick zurück: 1995 haben die Eltern der kleinen Olivia die damals Sechsjährige aus [??] St. Anna- Kinderspital genommen. Sie haben die Schulmedizin insbesondere die Chemotherapie abgelehnt. Damals, und sie tun es auch heute.
Die Eltern haben das Mädchen, das an einem Wilms-Tumor gelitten hatte, nach Spanien genommen und auf die Methoden der, nach Eigendefinition, "NEUEN MEDIZIN" von Ryke Geerd Hamer gesetzt, allerdings ohne Erfolg. Die Hoffnung auf Spontanheilung (mit 0,1 Prozent Wahrscheinlichkeit) haben sich nicht erfüllt, die Aussichten auf Genesung der kleinen Patientin durch Schulmedizin sind von anfangs 95 Prozent durch die monatelange Unterbrechung der Behandlung auf 20 bis 40 Prozent abgesackt, wird bei der Berufungsverhandlung 1997 befunden worden sein. Das Urteil gegen die Eltern – acht Monate Haft, bedingt auf drei Jahre – wird bestätigt worden sein.
"Da spiele ich nicht mit"
Heute ist die damals hagere Olivia, in welcher der Tumor auf sechs Kilogramm gewuchert ist, eine Hauptschülerin wie viele andere auch. Sie ist – nach amtlich verordneter und durchgesetzter, schulmedizinischer Behandlung – genesen. Das Haus, in dem die Familie in einem Ort bei Wiener Neustadt lebt, wird von niemandem mehr belagert; schon längst nicht mehr. Es herrscht Ruhe im verschlafenen Nest.
"Es klappt tadellos", weiß Bezirkshauptmann Herbert Marady. "Keine Nachricht ist in dem Fall eine gute Nachricht." Und Nachricht hat er, der Amtsleiter, vom Jugendamt schon lange nicht mehr bekommen. Olivia erscheine zu den Nachuntersuchungen regelmäßig und pünktlich. "Nur einmal, ganz am Anfang, hat es da Probleme gegeben", berichtet Marady. "Aber das ist Jahre her." Mit den Jahren ist die Frequenz der Besuche zurückgegangen, welche die Sozialarbeiterin der Familie von Olivia abzustattet hat. Auch wenn ihre Eltern nicht an die Behandlung glauben: Sie beugen sich."
"Es wundert mich", zweifelt Olivias Vater, "warum es Sie interessiert, wie es einem einzigen Kind geht. Das Thema Krebs ist für alle Menschen von vorrangiger Bedeutung. Die NEUE MEDIZIN ist ein goldener Strohhalm und immer nur bestätigt worden. Zuletzt 1998 in ..." Ein Interview gewähre er nicht, er nehme nur Stellung, "wenn Sie konkrete Vorwürfe haben". Das gibt es nicht. So meint der Enddreißiger: "Bei diesem Spiel spiele ich nicht mit. Sie müssen nicht über ein einzelnes Kind schreiben, sondern über die NEUE MEDIZIN. Das tun Sie nicht. So machen Sie sich schuldig."
Über das Befinden seiner Tochter sagt er: "Sie hat’s überlebt." Seine Einstellung zur Schulmedizin habe Olivias Genesung nicht geändert. "Wenn Sie ein Furunkel am Fuß haben und ihnen die Ärzte ein Bein amputieren, dann werden sie ja wohl nicht glauben, daß sie geheilt sind? Oder?"