Olivia Pilhar: Strafprozeß, Urteil 2. Instanz
REPUBLIK ÖSTERREICH
Oberlandesgericht Wien
04.09.1997
Im Namen der Republik
Das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht hat in der Strafsache gegen 1.) Ing. Helmut PILHAR und 2.) Erika PILHAR wegen §§ 195 Abs.1, Abs.2; 88 Abs.1, Abs.4, 1.Fall StGB über die Berufungen der Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Wr. Neustadt vom 11. November 1996, GZ 40 E Vr 534/95-189, nach der am 4. September 1997 unter dem Vorsitz des Richters des Oberlandesgerichtes Dr. Gallent, im Beisein der Richter des Oberlandesgerichtes Dr. Veigl und Dr. B. Kunst als weitere Senatsmitglieder und der Richteramtsanwärterin Mag. Svatek als Schriftführerin, in Gegenwart des Oberstaatsanwaltes Dr. Seystock sowie in Anwesenheit der Angeklagten 1.) Ing. Helmut Pilhar und 2.) Erika Pilhar und ihrer Verteidiger Mag. Rebasso und Heike Schefer durchgeführten Berufungsverhandlung am 4. September 1997 zu Recht erkannt:
Den Berufungen wird nicht Folge gegeben.
Gemäß dem § 390 a Abs.1 StPO fallen den Angeklagten auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Entscheidungsgründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurden Ing. Helmut Pilhar und Erika Pilhar der Vergehen der Entziehung
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eines Minderjährigen aus der Macht des Erziehungsberechtigten nach dem § 195 Abs.1, Abs.2 StGB und der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs.1, Abs.4, 1.Fall StGB schuldig erkannt und jeweils unter Anwendung des § 28 Abs.1 StGB nach dem § 195 Abs.2 StGB zu einer unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von jeweils 8 Monaten verurteilt. Urteilsgegenständlich war, daß die Angeklagten in Maiersdorf und anderen Orten Österreichs, Deutschlands, der Schweiz und Spaniens
I./ in der Zeit vom 23. Juni bis 29. Juli 1995 eine unmündige Person, nämlich die am 31. Dezember 1988 geborene Olivia Pilhar der Macht des Erziehungsberechtigten, nämlich der mit Beschluß des Bezirksgerichtes Wr. Neustadt vom 23. Juni 1995, AZ P 218/95 mit der Obsorge über das Kind betrauten Bezirkshauptmannschaft Wr. Neustadt-Jugendabteilung dadurch entzogen, daß sie den Aufenthalt des Kindes verheimlichten und mit ihm über Deutschland und die Schweiz bis nach Spanien (Malaga) fuhren;
II./ in der Zeit von Mitte Juni 1995 bis 29. Juli 1995 fahrlässig ihre Tochter Olivia Pilhar, die an einem operablen Wilmstumor erkrankt war, an der Gesundheit schwer geschädigt und ihr dadurch eine schwere Körperverletzung, nämlich eine massive Verschlechterung des Tumorleidens, verbunden mit Schmerzen und einem letztendlich moribunden Zustand zugefügt, daß sie die
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chemotherapeutische Behandlung und damit die Operation des Tumors ablehnten und verhinderten.
Dazu traf das Erstgericht folgende Feststellungen:
Am 17. Mai 1995 wurde der Zweitangeklagten vom Vorstand der Kinderklinik des Allgemeinen Öffentlichen Krankenhauses Wr. Neustadt, Prim. Jürgenssen eröffnet, daß das Kind an einer bösartigen Nierenzyste, einem sogenannten Wilmstumor erkrankt sei und ihr nahegelegt, mit dem Kind sofort das – österreichweit anerkannte und dafür auch eingerichtete Kinderkrebszentrum St. Anna-Kinderspital zwecks sofortiger Behandlung aufzusuchen, welchem Rat folgend die Eltern das Kind noch am selben Tag dort vorstellten. Nach ersten Zugangsuntersuchungen am Folgetag wurde den Eltern die Diagnose bestätigt und wegen des bevorstehenden Wochenendes die ärztliche Entscheidung durch die kompetenten Entscheidungsträger für den kommenden Wochenbeginn in Aussicht gestellt. Während des Aufenthaltes des Kindes über das Wochenende im St. Anna-Kinderspital hatten die Eltern Gelegenheit, den bedauernswerten Zustand an Krebs erkrankter Kinder zu studieren, worauf sich bei ihnen eine Abneigung gegen die dortigen Behandlungsmethoden entwickelte. In einem privaten Gespräch mit bekannten, jedoch medizinisch nicht ausgebildeten Personen wurde ihnen überdies eine chemotherapeutische Behandlung des Kindes als besonders nachteilig und lebensbedrohend geschildert und ihnen die Möglichkeit anderer, alternativer Behandlungsmethoden, wie etwa jene nach Dr. Hamer
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vor Augen geführt. Darauf festigte sich bei den Eltern der Entschluß, das Kind nicht in der begonnenen Spitalsbehandlung zu belassen, sondern nach Alternativen zu suchen.
Am Montag, dem 22. Mai 1995 fand im St. Anna-Kinderspital mit dem Stationsverantwortlichen und Oberarzt Dr. Mann ein Diagnoseaufklärungs- und Therapiegespräch statt, bei welchem die Eltern über die Bestätigung der Diagnose Wilmstumor aufgeklärt wurden. Die Heilungschancen wurden von Dr. Mann aufgrund eines zusätzlichen Laborbefundes und einer Computertomographie, wonach lediglich eine Nierenzyste und kein originärer Lebertumor vorliege, als sehr gut für den Fall des sofortigen Beginnes mit einer relativ milden Form der Chemotherapie beurteilt. Der Genannte erklärte den Eltern das Wirkungsprinzip der Chemotherapie und, daß die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen gering bis ganz unwahrscheinlich sei. Auf die Einwände der Eltern, ihr Kind könnte eine solche Behandlung nicht aushalten, warnte der Zeuge davor, die anders gelagerten Erkrankungen der im Spital beobachteten Kinder mit jener ihres Kindes zu vergleichen und stellte schließlich nach Erkennen der massiven Ablehnungsfront überdies in Aussicht, daß auch ohne primäre Chemotherapie, jedoch sofort, operiert werden könnte. Dennoch konnten sich die Eltern nicht entschließen, ihre Zweifel abzulegen und verließen mit dem Kind das Krankenhaus, nachdem sie Dr. Mann abschließend gemahnt hatte, nach einer
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Überlegungsfrist von zwei Tagen zufolge gebotener Eile neuerlich zu kommen. Ohne zielführende Behandlung wurde sich der Tumor innerhalb von Wochen verdoppeln, die Lebenserwartung des Kindes sei für diesen Fall nur mehr mit einem halben bis zu einem ganzen Jahr zu veranschlagen.
Im Anschluß daran suchten die Eltern mit dem Kind die ihnen als Alternativmedizinerin genannte Ärztin Dr. Rozkydal in deren Wiener Ordination auf. Die Genannte lehnte eine Behandlung des Kindes mit der Begründung ab, sie kenne sich beim Wilmstumor nicht aus, sodaß sie ebenfalls zur Chemotherapie raten müsse. Nachdem die Ärztin bemerkt hatte, daß die Kindeseltern Dr. Hamer konsultieren möchten, ließ sie sich zu ihrem Schutz die Aufklärung schriftlich bestätigen, daß die Behandlungsmethoden dieses Mannes wissenschaftlich nicht anerkannt seien.
In den folgenden Tagen suchten die Eltern Pilhar tatsächlich Dr. Hamer in seiner Ordination in Köln mit dem Kind auf, welcher eine Nierenzyste und einen Leberkrebs diagnostizierte und ihnen seine Theorie eines zweiphasigen Krebsgeschehens – die Krebserkrankung sei auf einen Persönlichkeitskonflikt zurückzuführen, man müsse nur den Konflikt lösen, dann bilde sich das Krebsgeschehen von selbst wieder zurück – entwickelte und darlegte, die Nierenzyste bilde sich bereits wieder zurück, dieser Konflikt sei bereits abgeschlossen, nicht jedoch der Leberkrebs, der vor allem auf die
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berufsbedingte Abwesenheit der Mutter vom Kind zurückzuführen sei. Obwohl die Eltern Pilhar wußten, daß Dr. Hamer in Deutschland die Behandlungsbefugnis als Arzt aberkannt worden war, hatten sie nicht nur keine Bedenken gegen die von ihm entwickelte Theorie, sondern entschlossen sich überdies, seinen Anweisungen insoferne zu folgen, als die Zweitangeklagte nunmehr bereit war, ihren Beruf und das zu Hause eingeleitete Bauvorhaben aufzugeben, um sich ganz dem Kind zu widmen.
Nach ihrer Rückkehr am 26. Mai 1995 zog die Familie Pilhar in das Haus der Eltern der Zweitangeklagten um. Dort erreichte sie nach Verstreichen der zweitägigen Überlegungsfrist ein Anruf des Oberarztes Dr. Mann. Diesem erklärte der Erstangeklagte wahrheitswidrig, Olivia sei bereits in einer Klinik, die er – unter Hinweis auf das den Eltern zustehende Recht auf freie Arztwahl und überdies um Zeit zu gewinnen – anzugeben verweigerte. Ebenso verhielt er sich am 29. Mai 1995 in einem Telefonat mit dem Klinikchef des St. Anna-Kinderspitals, Prof. Gadner.
In der Folge suchten die Eltern Pilhar mehrere, ihnen als Alternativmediziner genannte Ärzte auf, um von diesen eine Behandlung des Kindes zu erreichen. Das Ergebnis dieser Kontaktaufnahmen ging jedoch über die Verschreibung homöopathischer Präparate zur Beruhigung des Kindes nicht hinaus. Eine kompetente, über allgemeine Erörterungen zur Schul- und Alternativmedizin hinausgehende Behandlung konnte nicht erreicht werden.
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Da mittlerweile das Pflegschaftsgericht Wr. Neustadt von Prim.Dr. Jürgenssen über die bisherigen Vorgänge informiert worden war, beraumte der Pflegschaftsrichter für den 9. Juni 1995 eine Tagsatzung an, bei der der Erstangeklagte die Bekanntgabe eines behandelnden Arztes verweigerte und seine Theorie von der richtigen Behandlung nach Dr. Hamer entwickelte. Aufgrund eines ihm zugekommenen Schreibens des Bundesministeriums für Gesundheit, wonach sämtliche Zytostatika krebserregend seien, könne er sich nicht vorstellen, wie man Krebs mit Krebs therapieren könne. Um die festgefahrene Situation zu entspannen, machte der Pflegschaftsrichter dem Erstangeklagten nach Einholung eines neurologischen Gutachtens den Vorschlag, dieser möge eine Ultraschalldiagnose von einem Arzt seiner Wahl einholen, um das Fortschreiten des Krankheitsverlaufes kontrollieren zu können. Dieser Befund sei ihm jedoch längstens innerhalb von drei Tagen bis zu einer Woche vorzulegen, um die Theorie überprüfen zu können, das Tumorwachstum könne nach Konfliktlösung zum Stillstand gebracht werden.
Die Eltern Pilhar suchten daher in der Folge den Radiologen Dr. Hejda in Mödling auf, der ein weiteres Wachstum des Tumors diagnostizierte. Da mit diesem Befund „kein Verständnis für die Neue Medizin“ vom Pflegschaftsrichter zu erwarten war, entschieden sich die Eltern Pilhar nunmehr, „mit dem Kind die Flucht anzutreten„. Die daraufhin erfolgte Reaktion des
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Pflegschaftsgerichtes war für die Eltern insoferne „nicht überraschend„, als der Pflegschaftsrichter bereits bei der Tagsatzung vom 9. Juni 1995 im Falle eines negativen Befundes und der weiteren Weigerung, einer schulmedizinischen Behandlung zuzustimmen, dezidiert die Aberkennung der elterlichen Rechte in Aussicht gestellt hatte, um den unverzüglichen Beginn einer geeigneten medizinischen Behandlung gewährleisten zu können.
Mit Beschluß vom 23. Juni 1995 entschied das Pflegschaftsgericht Wr. Neustadt, gemäß § 176 ABGB den Kindeseltern Helmut und Erika Pilhar die Obsorge hinsichtlich ihrer minderjährigen Tochter Olivia zu entziehen und der Jugendabteilung der Bezirkshauptmannschaft Wr. Neustadt zu übertragen, welche alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen habe, die zur Durchführung der medizinischen Behandlung der Erkrankung der Minderjährigen nach wissenschaftlich anerkannten Behandlungsmethoden erforderlich sind. Gemäß § 12 AußStrG wurde der sofortige Vollzug der getroffenen Maßnahme angeordnet. Die schriftliche Ausfertigung des Beschlusses wurde am 27. Juni 1995 der Jugendabteilung der BH Wr. Neustadt zugestellt, worauf für den nächsten Tag die Abnahme des Kindes in die Wege geleitet wurde. Am 28. Juni 1995 konnte der Leiter der Jugendabteilung, JIR Franz Gruber und DSA Reisner, die an der Meldeadresse der Angeklagten erschienen, um das Kind abzunehmen, nur die mütterlichen Großeltern und die
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Schwester der Kindesmutter antreffen, die erklärten, vom derzeitigen Aufenthalt der Eltern und des Kindes nichts zu wissen. Nachdem diesen Mitbewohnern der Grund des Einschreitens erklärt und eine Fotokopie des Beschlusses des Pflegschaftsgerichtes – der im übrigen am selben Tag auch mit der Post zugestellt und dessen Empfang von der mütterlichen Großmutter unterzeichnet wurde – zurückgelassen worden war, wurden diese Personen überdies dringend ersucht, die Kindeseltern anläßlich des nächsten Telefonates aufzufordern, sich mit den Beamten der Jugendabteilung umgehend ins Einvernehmen zu setzen.
Die Flucht der Eltern führte diese zusammen mit dem Kind nach Kärnten. Beim nächsten Anruf des Erstangeklagten eröffnete ihm die mütterliche Großmutter Maria Schilcher, daß die Abnahme des Kindes unter Gendarmerieassistenz versucht worden war. Über Aufforderung las sie dem Erstangeklagten den Inhalt des Beschlusses vor. Damit mußten die Eltern Pilhar auch zur Kenntnis nehmen, daß der sofortige Vollzug der Maßnahme angeordnet worden war. Dennoch konnten sie sich nicht entschließen, diese behördliche Maßnahme zu befolgen, sondern wurden in ihrem Entschluß noch bestärkt, ihre Flucht fortzusetzen, die in der Folge über Deutschland und die Schweiz über Vermittlung Dris. Hamer bis nach Spanien führte, wo die Eltern mit ihrem Kind in Malaga Quartier nahmen.
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Über die tatsächliche Verhinderung der behördlichen Maßnahmen durch Flucht hinaus beauftragten sie den damaligen Rechtsbeistand Dr. Wolfgang Vacarescu in Graz, auf rechtlichem Wege zu versuchen, den Beschluß aufzuheben. Über dessen Rekurs vom 5. Juli 1995 entschied das Landesgericht Wr. Neustadt als Rekursgericht mit Beschluß vom 19. Juli 1995, daß dem Rekurs nicht Folge gegeben werde und der außerordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Inhaltlich entschied das Rekursgericht, daß das Erstgericht mit dem angefochtenen Beschluß den Kindeseltern die Obsorge über das Mädchen entzogen und die elterlichen Rechte des § 144 ABGB zur Gänze der BH Wr. Neustadt übertragen habe. Das Rekursvorbringen zeige mehr als deutlich die derzeitige Unfähigkeit der Kindeseltern, den Ansprüchen des Mädchens auf Gesundheit und Lebensqualität gerecht zu werden.
Die Bemühungen der von Dr. Hamer als Vertrauensarzt begleiteten Eltern in Malaga gingen dahin, die Aufnahme des Kindes in einer spanischen Klinik zu erreichen, was letztlich nicht gelungen ist. Aufgrund des mittlerweile über Medienberichte den österreichischen Behörden bekanntgewordenen Aufenthaltes der Angeklagten wurde vor allem über Interpol versucht, die Durchsetzung der in Österreich beschlossenen behördlichen Maßnahmen zu erreichen. Da sich der Behördenweg als schwierig erwies, wurde über private Initiative die Ärzteflugambulanz Schwechat beauftragt, die Rückholung
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des Kindes zu erreichen und dabei als Kontaktperson Frau Dr. Marina Marcovich gewonnen. Dieser gelang es, ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern aufzubauen und einen Meinungsumschwung bei Dr. Hamer dergestalt zu erreichen, daß auch dieser nunmehr zu einer Rückkehr nach Österreich riet. Dieses Einvernehmen konnte aber unter offensichtlicher Einflußnahme durch Dr. Hamer nur dadurch erreicht werden, daß Dr. Marcovich eine Erklärung unterfertigte, sie als Repräsentantin der österreichischen Regierung garantiere, daß in Österreich nichts gegen den Willen der Eltern geschehe. Diese Erklärung war aber auch nach der Aussage der Zeugin Marcovich nie dahin zu verstehen, daß das Sorgerecht an die Eltern „zurückgegeben“ wurde. Der diesbezüglich relevierte, behördliche Schriftverkehr hat sich nur auf die Frage beschränkt, ob die Eltern festzunehmen seien, um die Flucht zu beenden.
Am 24. Juli 1995 wurde Olivia mit ihren Eltern von der Flugambulanz auf den Flughafen Wien-Schwechat zurückgebracht, durfte mit Zustimmung des Amtsvormundes Dr. Zimper zunächst in das Haus nach Maiersdorf zurückkehren und wurde in der Folge nach Zustimmung des Vorstandes der Kinderklinik im Allgemeinen öffentlichen Krankenhaus Tulln, Prof. Dr. Vanura, dort aufgenommen. Der Aufnahmebefund hat ergeben, daß das Kind im bereits moribunden Zustand eingeliefert wurde, sodaß ein Behandlungserfolg wegen seines äußerst schlechten Allgemeinzustandes nunmehr bereits äußerst fraglich war.
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Jedenfalls kam aber eine Behandlung des Kindes nur im Einverständnis und in Gegenwart der Eltern in Frage, weil dieses psychische Moment aus ärztlicher Sicht nunmehr von ganz entscheidender Bedeutung geworden wäre. Eine Zwangsbehandlung gegen den Willen der Eltern lehnte Prof. Vanura ab. Offenbar unter dem Eindruck dieser Situation waren die Eltern Pilhar nunmehr erstmals bereit, auch einer Chemotherapie des Kindes zuzustimmen. Bereits am nächsten Tag haben sie dieses Einverständnis widerrufen, weil sie erkannten, daß diesem zwar nicht aus rechtlichen, aber aus medizinischen Gründen entscheidende Bedeutung zukomme und sie damit das Einsetzen der Behandlung neuerlich verhindern konnten, die sie nach wie vor nicht zielführend und das Leben des Kindes bedrohend erachteten.
Vor diese Situation gestellt, wandte sich die Amtsvormundschaft neuerlich an das Pflegschaftsgericht Wr. Neustadt mit der Bitte, der veränderten Situation entsprechend weitere Beschlüsse zu fassen. Der Pflegschaftsrichter ordnete daraufhin am 28. Juli 1995 an Ort und Stelle im Krankenhaus Tulln eine Tagsatzung an, der Prim. Dr. Vanura und Dr. Helmut Gadner beigezogen wurden, von denen das Gericht erfahren mußte, daß wegen des außerordentlichen Tumorwachstums von mittlerweile 4200 ml Volumen, der damit zusammenhängenden starken Atmungsbeschwerden und den offensichtlich starken Schmerzen die Überlebenschancen des Kindes auf etwa 50 % gesunken seien, welche Annahme sich noch drastisch
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auf etwa 10 bis 15 % reduziere, wenn eine Mitwirkung der Eltern nicht erreicht werden könne. Auch unter Vorhalt dieser kompetenten ärztlichen Meinungen weigerte sich der Kindesvater weiterhin, an der Behandlung des Kindes mit Chemotherapie mitzuwirken. Das Pflegschaftsgericht hat hierauf ein Team von Fachleuten bestehend aus Prof. Dr. Viktor Pickl, DDr. Alois Stacher, Dr. Klaus Lechner und Dr. Heinz Ludwig stellig gemacht und mit einem wissenschaftlich begründeten Gutachten beauftragt, das zu dem Ergebnis kam, es bestehe kein vernünftiger Zweifel am Vorliegen eines Wilmstumors und sei ohne Behandlung mit verschiedenen Komplikationen wie Einblutung, Rupturierung, Gefäßkompression, Infektionskomplikationen und Metastasierung des Tumors zu rechnen, die mit dem Leben des Kindes nicht vereinbar wären. Somit sei eindeutig festzuhalten, daß ohne medizinische Intervention das Leben des Kindes zu Ende gehen werde. Durch das lange Zuwarten habe sich die Ausgangssituation (Heilungsrate über 95 %) beträchtlich verschlechtert, sodaß nunmehr damit zu rechnen sei, daß aufgrund der hohen Tumorlast die Therapiechancen deutlich niedriger anzusetzen und als Therapieoptionen prinzipiell die Chemotherapie und die operative Entfernung des Tumors zu empfehlen seien. Derzeit sei aufgrund der extremen Tumorgröße ein operatives Vorgehen nicht möglich, weshalb die Einleitung einer Chemotherapie zur Tumorreduktion empfohlen werde. Nach erreichter Verkleinerung wäre dann mit Hilfe der Operation die
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Möglichkeit der vollständigen Entfernung des Tumors gegeben. Aufgrund der massiven Tumormasse seien die sehr guten Heilungschancen bei früherem Tumorstadium nicht mehr erreichbar und dürften derzeit bei 20 bis 40 % liegen. Aufgrund sorgfältiger Abwägung des zu erwartenden Nutzens und auch der möglichen Risken kommt das Gutachten daher zu dem Schluß, daß beim Kind auch ohne Mitwirken der Eltern unverzüglich eine aktive Chemotherapie eingeleitet werden solle. Aufgrund dieser Ergebnisse des Gutachtens hat sich das Pflegschaftsgericht entschlossen, den ursprünglichen Beschluß beizubehalten und die Transferierung sowie Behandlung des Kindes in das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien – Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Vorstand Univ.Prof.Dr. Urbanek vorgeschlagen. Diesem Vorschlag ist die BH Wr. Neustadt unmittelbar nachgekommen und hat das Kind am 29. Juli 1995 gegen den Willen und Widerstand der Eltern nach Wien transferiert, wo die Zwangstherapierung unmittelbar einsetzte.
Aufgrund der durchgeführten Chemo– und Strahlentherapie verlief die Operation des Tumors erfolgreich, auch die postoperative Chemotherapie verlief durchaus günstig, sodaß das Kind als potentiell geheilt gilt.
Mit Beschluß vom 27. März 1996 hat das Pflegschaftsgericht Wr. Neustadt die Obsorge hinsichtlich der minderjährigen Olivia Pilhar mit Ausnahme aller die medizinische Behandlung und Nachbehandlung sowie Kontrolle der Erkrankung der Minderjährigen sowie
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Bestimmung ihres Aufenthaltsortes betreffenden Angelegenheiten den Kindeseltern Helmut und Erika Pilhar wieder rückübertragen.
Seine Beweiswürdigung stützte der Erstrichter auf die Erklärung der Angeklagten, alle Schritte gemeinsam besprochen und beschlossen zu haben, sowie deren Vorbringen, sie hätten nicht glauben wollen, daß man in Österreich sein Kind seinen Eltern tatsächlich „wegnehmen“ kann. Insbesondere bestätigte der Erstangeklagte, die Reaktion des Gerichtes habe ihn nicht überrascht und habe er vom Versuch der Kindesabnahme anläßlich eines Telefonates erfahren, bei dem ihm auch der Inhalt des schriftlichen Beschlusses vorgelesen wurde, weshalb das Erstgericht davon ausgehend, daß die Angeklagten bereits auf Gerüchte, das Kind werde ihnen abgenommen, die Flucht angetreten haben und die Eröffnung des Beschlusses am Telefon für sie daher nur die Bestätigung ihres bereits gefaßten Vorsatzes sein konnte, direkten Vorsatz annahm. Die objektive Tatbestandsverwirklichung zu § 195 StGB erschloß es aus der Tatsache der Anordnung des sofortigen Vollzuges des pflegschaftsgerichtlichen Beschlusses und äußerte sich zu den fehlende Rechtskraft geltend machenden Einwendungen der Verteidigung dahingehend, ein bewußtes Zuwiderhandeln in Erwartung einer gegenteiligen gerichtlichen Maßnahme begründe jedenfalls bedingten Vorsatz, der darin bestehe, die Möglichkeit einer solchen Entscheidung ernstlich
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erwogen und sich mit einem nachteiligen Ereignisablauf abgefunden zu haben.
Die fahrlässiges Handeln zu § 88 StGB in Abrede stellende Verantwortung beider Angeklagter, die sich auf das ihnen vermeintlich zustehende Recht auf freie Arzt- und Therapiewahl beriefen und angaben, sie hätten den immer schlechter werdenden Gesundheitszustand ihres Kindes zwar beobachtet, aber bis zuletzt im Sinne Dr. Hamers darauf vertrauen können, daß mit der Konfliktlösung auch die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes einhergehen werde, verwarf der Erstrichter (zusammengefaßt) aufgrund der Aussagen der ärztlichen Zeugen Dr. Jürgenssen, Dr. Mann, Dr. Gadner, Dr. Loibner, Dr. Rozkydal , sowie Prim. Dr. Vanura, vor allem aber aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Univ. Doz. Dr. Scheithauer, das den Wilmstumor als äußerst aggressiv, rasch wachsend und bösartig beschreibt, welcher ohne entsprechende Behandlung binnen weniger Monate zum Ableben des Patienten führt. Die Behandlung sollte ausschließlich spezialisierten Tumorzentren vorbehalten sein und in Anlehnung an internationale kooperative Therapieprotokolle (z.B. SIOP-93 Nephroplastomstudie) erfolgen. Diesem Gutachten entnahm der Erstrichter auch die diversen Tumorstadien I bis IV und deren jeweilige Behandlung und Heilungschance sowie die Ausführung, bei der letzten Untersuchung am 3. August 1995 seien erstmals drei Lebermetastasen festgestellt worden bzw. könnte der bereits auf den
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Lungen-CT-Bildern vom 26. Juli 1995 bestehende zusätzliche Verdacht auf Lungenmetastasen bestätigt werden. Die Fernmetastasen im Bereich von Leber und Lunge seien nicht vor dem 19. Mai 1995 entstanden, sondern habe sich bei der Erstdiagnose lediglich ein auf die Niere begrenztes Tumorgeschehen gefunden, dessen Heilungschance zumindest im Ausmaß von 95 % zu erwarten war. In einem Zeitraum von 10 bis 11 Wochen, um den der Beginn der Therapie verzögert wurde, habe sich eine massive Verschlechterung des Tumorleidens abgezeichnet, sodaß sich Anfang August nebst einer enormen Größenzunahme des Primärtumors auch Leber- und Lungenmetastasen entsprechend einem Tumorstadium IV fanden, aufgrund dessen eine intensivere Chemo– und Bestrahlungstherapie zur Anwendung gelangen mußte. Das Risiko dieser inzwischen unumgänglich gewordenen Behandlung wurde durch den schlechten Allgemeinzustand der Patientin – sie mußte einige Tage bis Wochen intensiv medizinisch betreut bzw. künstlich beatmet werden – zweifellos potenziert. Auch wenn gegenwärtig eine Definitivheilung möglich erscheine, ist durch die intensivere Behandlungsstrategie das Risiko etwaiger Spätschäden höher, als dies zum Zeitpunkt der Erstdiagnose gewesen wäre. Auch müsse darauf geschlossen werden, daß die offensichtlich chronischen und besonders zuletzt heftigen Tumorschmerzen des Kindes nicht adäquat behandelt worden sind.
Ergänzend führte der Sachverständige in der Hauptverhandlung aus, zum Zeitpunkt des Beginns der
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Chemotherapie habe sich die Krankheit zu einem Tumorstadium IV mit Lungen- und Lebermetastasen und einer von 97 % auf rund 50 % gesunkenen Überlebenswahrscheinlichkeit verschlimmert gehabt, wobei der von 8 auf 30 cm angewachsene Tumor den Bauch des Kindes merkbar aufgebläht habe. Das St. Anna Kinderspital sei das österreichweit anerkannte kompetente Therapiezentrum für Krebserkrankungen, deren statistische Aufzeichnungen zentral dort geführt würden. Auf diesen europaweit koordinierten Aufzeichnungen beruhe auch die vom Spital verwendete Therapiestudie SIOP 9 GPO. Sie stelle den letzten Stand der medizinischen Wissenschaft dar, eine Alternative gebe es nicht. Demgegenüber sei die von Dr. Hamer vertretene Theorie keine wissenschaftlich anerkannte Methode, es existiere keine wissenschaftlich vorgesehene Publikation, sondern vorwiegend Veröffentlichungen der Laienpresse. Lediglich zwei in Fachzeitschriften veröffentlichte Artikel lägen vor, bezögen sich aber nicht auf den Wilmstumor, weshalb sie als geeignete Informationsquelle auszuscheiden hätten. Spontanheilungen lägen statistisch unter dem Wert von 0,1 %.
Nach Abweisung mehrerer, im folgenden noch näher zu beleuchtender Anträge der Verteidigung kam das Erstgericht unter Verneinung des Vorliegens von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen und Bejahung des Vorsatzes in Form der Wissentlichkeit zu Faktum I./ und fahrlässigen Handelns zum Faktum II./, wobei es als Maß
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der gebotenen Sorgfalt die Kunstregeln und innerhalb derer die Erkenntnisse der SIOP 9 GOP-Studie als geübte Verkehrsnorm bezeichnete, zu einem Schuldspruch und wertete bei der Strafbemessung bei beiden Angeklagten als mildernd den bisher ordentlichen Lebenswandel, als erschwerend dagegen die Begehung zweier gerichtlich strafbarer Handlungen.
Gegen dieses Urteil richten sich die im gemeinsamen Schriftsatz (ON 195) erhobenen Berufungen beider Angeklagter wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe, denen jedoch keine Berechtigung zukommt.
Die nach Urteilsfakten getrennt zur schriftlichen Darstellung gebrachte Nichtigkeitsberufung macht zum Faktum § 195 StGB mit der Rechtsrüge (§ 281 Abs.1 Z 9 lit a StPO) Feststellungsmängel darüber, wann und auf welche Weise den Angeklagten der Beschluß des Bezirksgerichtes Wr. Neustadt vom 23. Juni 1995 zugestellt wurde, geltend, bestreitet eine ordnungsgemäße Beschlußzustellung im Hinblick auf die Tatsache, daß Zustellungen an einen Ersatzempfänger nur dann statthaft seien, wenn sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhält, weshalb von einem Zustellmangel auszugehen sei, der erst durch tatsächliche Empfangnahme des Schriftstückes geheilt wäre, woraus sie den Schluß zieht, die Rechtswirkung des Beschlusses habe innerhalb des vom Erstgericht angenommenen Tatzeitraumes mangels tatsächlicher Empfangnahme durch die Angeklagten nicht eintreten können.
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Diese Auffassung der Rechtsmittelwerber geht schon deswegen fehl, weil allfällige vorangegangene Zustellmängel spätestens in dem Zeitpunkt des tatsächlichen Zukommens der Entscheidung an den damals bevollmächtigten Rechtsvertreter der Angeklagten saniert waren (§ 7 ZustG), bewirkt doch jede zivilrechtliche Vollmacht und in gleicher Weise eine solche im Außerstreitverfahren – in zustellungsmäßiger Hinsicht zumindest die Gleichstellung des Rechtsvertreters mit der Partei (§ 106 ZPO). Dem Umstand, daß damit eine geringfügige Einschränkung des Deliktszeitraumes einhergeht, kommt angesichts der doch längeren Dauer desselben keine wesentliche Bedeutung zu. Damit aber erübrigen sich die von der Verteidigung begehrten Feststellungen darüber, wann und auf welche Weise den Angeklagten dieser Beschluß zugestellt wurde bzw. auch solche über den Zeitraum ihrer Ortsabwesenheit, wozu noch kommt, daß das Erstgericht die Geschehensabläufe ohnehin minutiös dargestellt hat (US 8).
Zu der vorstehend abgeleiteten Wirksamkeit des Beschlusses tritt dessen vom Pflegschaftsgericht – wegen vorliegend dringender Gefahr – auf §12 Abs.2 AußStrG gestützte sofortige Vollstreckbarkeit hinzu, weshalb mit dem damaligen Übergang der elterlichen Rechte auf die Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt die objektiven Voraussetzungen des § 195 StGB aktuell wurden.
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Die weiteren Ausführungen zur Rechtsrüge (§ 281 Abs. 1 Z 9 lit b StPO) – die Angeklagten hätten eine Rechtsgutverletzung im Sinne des § 195 StGB nur deshalb billigend in Kauf genommen, um ein höherwertiges Rechtsgut, nämlich die Gesundheit des Kindes zu schützen, weshalb die Voraussetzungen des übergesetzlichen rechtfertigen Notstandes gegeben seien – orientieren sich nicht am festgestellten Urteilssachverhalt. Der ausschließliche Argumentationsinhalt der Berufungswerber für ihre Ablehnung einer Behandlung durch die Vertreter der Schulmedizin geht nämlich dahin, daß sie die Verursachung gesundheitlicher Schäden durch Chemotherapie befürchteten. Sie übersehen dabei völlig, daß ein chemotherapeutisches Vorgehen nach den Konstatierungen des Erstrichters nicht die einzige Behandlungsmöglichkeit dargestellt hätte. Der der österreichweit kompetentesten Spitalseinrichtung angehörende Oberarzt Dr. Mann hat nämlich den Angeklagten auch eine sofortige Operation ohne primäre Verabreichung zytostatischer Mittel in Aussicht gestellt (US 5), sodaß sich die Frage nach dem – die Rechtsgutverletzung als einziges Mittel zur Abwendung des befürchteten Nachteils voraussetzenden – rechtfertigenden Notstand von vornherein nicht stellt. Im übrigen galt es, umgehend lebensrettende Maßnahmen zu setzen, denen gegenüber sich die nach dem gesamten Akteninhalt jedenfalls geringer einzustufenden Nachteile einer Chemotherapie nicht als – „bedeutend“ im Sinne der Definition des rechtfertigenden Notstandes
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darstellten. Mit der ausschließlichen Ausrichtung auf die Ablehnung einer Chemotherapie vermögen die Angeklagten bei dem festgestellten Tatsachensubstrat auch die irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes nach § 8 StGB nicht darzutun.
Die Rechtsrüge (§ 281 Abs.1 Z 9 lit a StPO) scheitert auch zum Faktum der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs.1 und 4, 1.Fall StGB. Wenngleich der Berufung zuzugeben ist, daß die Angeklagten niemals Normadressaten der vom Erstgericht als Maßstab allgemein anerkannter Verkehrsnormen angeführten SIOP 9 GPO-Studie sein können, sondern vielmehr das Verhalten sich ihrer Pflichten gegen die Mitwelt bewußter Eltern aus dem Verkehrskreis der Angeklagten in der konkreten Situation (vgl. Leukauf-Steininger, StGB, RN 12 zu _6) maßgeblich ist, kann die Beurteilung des Verhaltens der Angeklagten auch auf dieser Basis zu keinem anderen Ergebnis führen. Völlig unmaßgeblich bei Beurteilung des Tatbestandes nach § 88 StGB erscheint die Tatsache, ob das strafbare fahrlässige Verhalten durch aktives Tun oder durch bloßes Unterlassen gesetzt wurde. Feststeht nämlich – wie die Berufung zutreffend ausführt – daß sich die Krankheit von selbst fortentwickelte, ohne daß es dazu eines weiteren (aktiven) Beitrages der Angeklagten – die die aus der elterlichen Fürsorgepflicht resultierende Verpflichtung, das Fortschreiten der Krankheit abzuwenden, traf – bedurft hätte und somit nur Begehung durch Unterlassung im Sinne
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des § 2 StGB in Betracht kommen kann. Diesfalls sei zu Prüfen, ob die Unterlassung der Erfolgsabwendung einer Verwirklichung des gesetzlichen Tatbildes durch ein Tun gleichzuhalten ist. Aufgrund dieser an sich richtigen Prämissen gelangt die Berufung aber zu dem unrichtigen Ergebnis, die Eltern hätten eben eine andere, nach Meinung des Gerichtes falsche Behandlung versucht, weshalb diesfalls nicht von einer im Unrechtsgehalt einer Tatbegehung durch positives Tun gleichwertigen Unterlassung ausgegangen werden könne, übersieht sie doch dabei, daß die Angeklagten das Kind überhaupt keiner Behandlung zugeführt haben, weshalb sie die spruchgemäße Verschlimmerung des Krebsleidens durch Unterlassung zu vertreten haben.
Der vermeintliche Feststellungsmangel zur Frage der im Verkehrskreis von Kindeseltern geltenden Verhaltensnormen vermag als eine Komponente der rechtlichen Beurteilung von vornherein keinen Feststellungsmangel zu begründen. Zudem kommt eine Beurteilung auf der von den Rechtsmittelwerbern gewünschten Basis notwendigerweise zu dem selben Ergebnis fahrlässigen Verfahrens.
Irrelevant bei Beurteilung der Sach- und Rechtslage hingegen erscheinen Feststellungen darüber, aus welchen Gründen die Behandlung des Kindes in einem spanischen Krankenhaus unterblieben ist, ergibt sich die vom Erstgericht festgestellte objektive Sorgfaltswidrigkeit der Angeklagten doch daraus, daß sie ihrem Kind überhaupt keine Behandlung angedeihen ließen, wodurch eine
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massive Verschlechterung des Krebsleidens verbunden mit Schmerzen und einem moribunden Zustand, eintrat. Die begehrten Feststellungen, die sich überdies nur auf eine kleine Spanne des gesamten Tatzeitraumes beziehen können, sind schon aus diesem Grunde unerheblich.
Das Argument der freien Arztwahl scheitert daran, daß das Kind eben keinem approbierten Arzt zur konsequenten Behandlung überantwortet wurde und selbst die Methode Hamer keine konkreten Behandlungsschritte aufzeigt. Der den Angeklagten zur Last gelegte Vorwurf fahrlässigen Handelns stellt sich damit aber keineswegs dergestalt dar, daß sie statt des Arztes A den Arzt B gewählt haben, sondern wird ihnen vielmehr die Tatsache angelastet, daß sie ihrem Kind überhaupt keine ärztliche Behandlung angedeihen ließen, wogegen vergleichbare Kindeseltern im Falle einer Erkrankung ihres Kindes am Wilmstumor im Anfangsstadium jedenfalls irgendeine Form zielführender Behandlung – sei es nun (eine ohnehin nur leichte) Chemotherapie oder Operation – gewählt hätten. Ganz sicher ist aber davon auszugehen, daß derartige Kindeseltern, selbst wenn sie anfänglichen Vorbehalten gegen die Chemotherapie folgend sich an Vertreter der Alternativmedizin gewendet hätten, nach deren Auskünften, eine Operation sei nicht zu umgehen (Dr. Loibner), nach Ablehnung der Behandlung nach der Methode Hamer, weil diese nicht wissenschaftlich anerkannt sei und nach Information, wonach der Wilmstumor auf Chemotherapie gut anspreche und damit eine hohe
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Wahrscheinlichkeit der Heilung auf diesem Wege gegeben sei (Dr. Rozkydal ) sowie nach Mitteilung, der bei Kindern schnell wachsende Tumor ende in den meisten Fällen tödlich und werde empfohlen, einen weiteren Urologen aufzusuchen (Dr. Leeb), sich nicht damit begnügt hätten, auf eine Selbstheilung zu hoffen, sondern dem Kind jedenfalls irgendeine erfolgversprechende Behandlung zukommen hätten lassen, wobei mit aller Deutlichkeit zu betonen ist, daß die im konkreten Fall zur Anwendung gelangte und ausschließlich auf Selbstheilung durch Konfliktlösung bauende Methode Hamer jedenfalls keine Behandlungsmethode darstellt.
Die Verfahrensrüge (§ 281 Abs.1 Z 4 StPO) behauptet den Entzug wesentlicher Verteidigungsrechte durch Abweisung der Anträge auf Einvernahme der Zeugen Ingrid Steininger, Dr. Ryke Geerd Hamer und Heide Kraus, die zum Beweis dafür geführt worden waren, daß die Entscheidung der Angeklagten gegen die schulmedizinische Krebstherapie in entscheidendem Maße durch die Mitteilung persönlicher Erfahrungen von betroffenen Krebspatienten beeinflußt war (Anträge ON 166 und 167 iVm Band VIII, AS 445). Im Hinblick auf die Urteilsfeststellungen (US 4), wonach die Angeklagten durch private Gespräche mit Bekannten, jedoch medizinisch nicht ausgebildeten Personen auf die Methode nach Hamer aufmerksam gemacht worden waren, wurden die angezogenen Beweisthemen im erstgerichtlichen Urteil hinreichend behandelt, sodaß zusätzliche Beweisaufnahmen in diese Richtung
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entbehrlich waren und sich daraus für die Angeklagten kein Nachteil ableiten läßt. Gleichfalls irrelevant stellt sich der auf Vernehmung des Gerald Kobierski gerichtete Antrag (AS 269 in ON 167, Band VIII) dar, ist doch das Beweisthema, nämlich der Inhalt eines Gespräches vom 24. Juli 1995, bei dem – von nicht einschlägig spezialisierten Ärzten – „über das Krebsgeschehen an der Leber“ gesprochen worden sein soll, schon deswegen nicht bedeutsam, weil nach dem Akteninhalt eine Betroffenheit der Leber gleichfalls den Einsatz chemotherapeutischer Mittel – wenn auch in anderer Zusammensetzung und/oder Konzentration – erlaubte, wie schließlich auch der gegenständliche Krankheitsverlauf aufzeigt, als letztlich gegebene Lebermetastasen zytostatisch erfolgreich behandelt wurden.
Kein Verfahrensfehler unterlief dem Erstgericht bei Abweisung des auf Einvernahme des Zeugen Hamer zu dessen Auftreten, Überzeugungskraft und Wirkung auf Patienten gerichteten Beweisantrages, hat doch das angefochtene Urteil den Einfluß dieses Zeugen auf die Entscheidung der Angeklagten stets außer Frage gelassen (US 6, 11, 17). Obwohl die prozeßrechtlichen Bedenken des Erstgerichtes (eine klare Trennung der Beweisthemen für Hamer als Zeugen einerseits und als Beschuldigten andererseits sei nicht möglich) vom Berufungsgericht nicht geteilt werden können – bietet doch § 152 Abs.1 Z 1 StPO eine derartige Konfliktlösung an – wurden im Hinblick auf die getroffenen Urteilsfeststellungen
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Verteidigungsrechte der Angeklagten nicht beeinträchtigt. Dasselbe gilt für das diesen Zeugen gleichfalls betreffende Beweisthema eines möglichen Leberkrebses (Anträge ON 166 iVm Band VIII, AS 445), welche Frage sich nach den vorstehenden Ausführungen zufolge fallangepaßt unterschiedlicher Behandlungsmöglichkeiten beider Fälle durch Chemotherapie als irrelevant darstellt sowie seiner Wirkung auf die Angeklagten, seiner Therapievorschläge und seines Beitrages zum gesamten Geschehensverlauf (Antrag im Band VIII, AS 451). Die beantragte Beweisführung erschien nämlich schon deswegen entbehrlich, weil das Erstgericht ohnehin davon ausgegangen ist, daß Dr. Hamer bei Olivia Pilhar eine Nierenzyste und einen Leberkrebs diagnostiziert, ihnen seine Theorie des Krebsgeschehens expliziert und erklärt hatte, die Konfliktlösung allein genüge, das Krebsgeschehen von selbst wieder rückläufig zu gestalten (US 5 bis 6), worauf sich die Angeklagten entschlossen, diesen Anweisungen zu folgen. Daß sie Dr. Hamer auch nach Spanien begleitete und dort betreute, ist auf den US 9 und 10 ausreichend dargetan. Damit aber bestand für das Erstgericht, das den diesbezüglichen Schilderungen der Angeklagten ohnehin Glauben geschenkt hat, keine Notwendigkeit, den beantragten Zeugen einzuvernehmen, sodaß Verteidigungsrechte der Angeklagten dadurch nicht beeinträchtigt wurden.
Die in der Berufungsverhandlung vorgetragene Rüge der Nichteinvernahme der Zeugen Prof. Dr. Rius und
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Prof. Dr. Stemmann war den Angeklagten verwehrt, weil die Nichtdurchführung dieser Anträge lediglich in der zurückgewiesenen Berufung der Verteidigerin Heike Schefer (siehe Beschluß des OLG Wien vom 4. August 1997), nicht aber in dem zu behandelden Schriftsatz ON 195 geltend gemacht worden war und das diesbezügliche Vorbringen sich demnach als verspätet darstellt (§ 467 Abs.2 StPO). Zudem ist das Erstgericht diesen Anträgen der Sache nach zutreffend nicht gefolgt. Wenn die Angeklagten Prof. Rius zum Beweis eines ursprünglichen Leberkrebsgeschehens ins Treffen führen und darauf aufbauend die Richtigkeit der Hamer’schen Diagnose bestätigt sehen wollen, sind sie auf die vorstehend dargelegte und in späterer Folge noch eingehend zu erörternde Entscheidungsunwesentlichkeit dieses Umstandes zu verweisen.
Was Prof. Stemmann betrifft, wurde er – der Rüge zuwider – nicht als Zeuge, sondern als Sachverständiger zur Frage der Stichhaltigkeit der „Neuen Medizin“ und zwecks Abgabe eines Gegengutachtens über die wahrscheinlichen Heilerfolge bei Olivia Pilhar für den Fall der unbehinderten Therapiewahl ihrer Eltern beantragt. Zur Zulässigkeit und Notwendigkeit eines derartigen Gutachtens sei auf die folgenden Ausführungen zum prozeßordnungsgemäß eingebrachten Rechtsmittel (ON 195) verwiesen.
Die Abweisung des auf Einholung ergänzender medizinischer Sachverständigengutachten zur Frage möglicher
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Begleit- und Spätfolgen einer zytostatischen Chemotherapie (ON 166, 167 iVm Band VIII, AS 447 bis 449) gerichteten Antrages vermag gleichfalls keine Urteilsnichtigkeit zu begründen, werden doch Begleiterscheinungen und allfällige Spätfolgen einer derartigen Behandlung auch von den Schulmedizinern gar nicht bestritten. Vorliegendenfalls stellt sich aber bei der erwiesenen Erkrankung an Wilmstumor gar nicht die Frage allfälliger Begleit- bzw. Spätfolgen einer Chemotherapie, liegt doch auf der Hand, daß die Methode nach Dr. Hamer überhaupt keine Therapie anbietet, sondern sich – auf Konfliktlösung ausgerichtet – auf die von dem Sachverständigen mit 0,1 % eingeschätzte Anzahl von Spontanheilungen verläßt. So betrachtet erwies sich aber die Methode der „Neuen Medizin“ von vornherein als nicht zielführend, weil ihr weit geringere Erfolgschancen zukamen als der schulmedizinischen Behandlung. Da die Beweisergebnisse erbrachten, daß bei weiterer Anwendung der Methode Dr. Hamers das Kind verstorben wäre (US 13), können die unter Beweis zu stellenden möglichen Begleit- und Spätfolgen einer Chemotherapie nur das geringere Übel darstellen, waren doch deren Erfolgsaussichten zu Anfang der Erkrankung bei ca. 95 % Heilungschance gelegen. Das Erstgericht wies daher diesen Beweisantrag ebenso wie jenen auf Ergänzung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Scheithauer über den bestehenden medizinischen Richtungsstreit zu Recht ab.
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Der beantragten Zuziehung eines zweiten medizinischen Sachverständigen, der im Konflikt zwischen Schulmedizin und „Neuer Medizin“ eine neutrale Position einnimmt, ermangeln die dafür notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen. Nach § 118 Abs.2 StPO ist ein zweiter Sachverständiger nur in schwierigen Ausnahmefällen dann zuzuziehen, wenn der beigezogene Sachverständige die ihm vorgelegten Fragen nicht oder nicht mit Bestimmtheit beantworten konnte, die Möglichkeit der Beantwortung durch einen zweiten Sachverständigen aber nicht auszuschließen ist (SSt 36/50) und der Antragsteller seine Behauptung substantiiert bekanntgibt. Allerdings obliegt die Beurteilung, ob die Schwierigkeit des Falles die Zuziehung eines zweiten Sachverständigen gebietet, dem Gericht. Hält dieses den Sachverständigen für fähig, ein einwandfreies Gutachten abzugeben, somit für unbedenklich und erheben sich keine Zweifel im Sinne des § 125 StPO, so kann die Entscheidung, daß ein zweiter Sachverständiger nicht zuzuziehen sei, nicht angefochten werden, da es sich diesfalls um eine im Nichtigkeitsverfahren unzulässige Anfechtung der Beweiswürdigung handelt. Ausgehend davon, daß der Standpunkt der Schulmedizin aus dem Akteninhalt klar hervorkommt und diesem Standpunkt die von Dr. Hamer und seinen Anhängern vertretenen Methoden konträr gegenüberstehent erscheint die Auffindung eines Vertreters beider einander ausschließender Richtungen von vornherein unmöglich. Andererseits bedurfte es auch nicht der Einholung eines
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Sachverständigengutachtens aus dem Gebiet der „Neuen Medizin„, ist deren Gedankeninhalt doch durch die Angeklagten selbst hinreichend zur Darstellung gebracht worden und hat sich das Nichtwirksamwerden dieser Methode anhand des fortschreitend sich verschlechternden Gesundheitszustandes der Olivia Pilhar in anschaulicher weise dokumentiert, sodaß jedenfalls im konkret relevanten Einzelfall das Festhalten an den Methoden Dr. Hamers nicht nur keinen Erfolg brachte, sondern im Gegenteil eine massive Gesundheitsverschlechterung bis hin zum moribunden Zustand nach sich zog.
Gleichfalls keine Verteidigungsrechte der Angeklagten wurden durch die Ablehnung des Antrages auf Beischaffung und gutächtliche Auswertung der in- und ausländischen Krankengeschichte der Olivia Pilhar verletzt, weil dem Gutachten des Prof. Dr. Werner Scheithauer ohnehin die wesentlichen Befunde zugrundelagen und der Sachverständige die Frage des Lebercarcinoms in seinem (schlüssigen und unbedenklichen) Gutachten ausreichend zur Darstellung gebracht hat. Wie bereits erörtert, könnte aber auch die Bestätigung eines originären Lebercarcinoms die Angeklagten, die während wochenlanger Flucht keine geeignete Heilbehandlung des Kindes veranlaßt hatten und demgemäß objektiv und subjektiv fahrlässig handelten, nicht exkulpieren.
Die Mängelrüge (§ 281 Abs.1 Z 5 StPO) behauptet eine falsche Wiedergabe der Aussage der Zeugin Rozkydal im Urteil, insoweit sie zitiert wurde, es bestehe eine
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hohe Wahrscheinlichkeit, den Wilmstumor mit Chemotherapie zu heilen (US 20, 21) und ist damit im Unrecht, hat die Zeugin doch (auf Seite 123 der ON 188, Band IX) genau diese Wortwahl getroffen. Daß die Zeugin den Angeklagten von der Chemotherapie abgeraten habe, ist deren Aussage jedenfalls nicht zu entnehmen. Vielmehr wies sie aus rechtlichen Erwägungen auf gravierende „Folgezustände“ hin (AS 123 in ON 188, Band IX), wenn die Eltern Chemotherapie nicht durchführen ließen. Damit konnte von der Berufung weder die behauptete Aktenwidrigkeit aufgezeigt werden, noch erscheinen die vagen Angaben der in dieser Sparte nicht spezialisierten Zeugin zu einem Lebergeschehen (AS 125 in ON 188, Band IX) von Relevanz. Zudem ergibt sich aus dem sonstigen Akteninhalt die Praktikabilität nach Lage des Falles modifizierter Anwendung der Chemotherapie durch die Schulmedizin, wobei es keinen grundsätzlichen Unterschied macht, ob ein originäres oder metastasierendes Lebercarcinoms vorliegt. Die Unterscheidung beider Formen der Erkrankung war schließlich wegen gänzlicher Unterlassung einer Therapiezuführung des Kindes durch die Angeklagten nicht entscheidungswesentlich.
Der Nichtigkeitsberufung konnte daher kein Erfolg beschieden sein.
Die Schuldberufung weist in ihrem Kern auf den bestehenden Richtungsstreit Schulmedizin – „Neue Medizin“ hin und vertritt die Auffassung, die Strafjustiz sei nicht gehalten, etablierte Institutionen zu
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schützen, sondern habe gesellschaftliche Entwicklungen mitzuvollziehen und auch den durch Vorlage einer Reihe von Schriftstücken und Publikationen vermittelten Eindruck über den Meinungs- und Diskussionsstand zu würdigen. Da sich schon viele alternative und neue revolutionäre Richtungen in der Medizin letztlich doch durchgesetzt haben, könne nicht von einem absoluten Richtigkeitsanspruch der etablierten Schulmedizin ausgegangen werden. Mit diesem Vorbringen übersieht die Berufung, der durchaus zugestanden wird, daß sich vor das aktengegenständliche Problem einer Krebserkrankung des Kindes gestellte Eltern grundsätzlich mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer vollständigen Heilung des Kindes auseinanderzusetzen haben und dabei auch alternative Methoden erwägen können, daß den Angeklagten aber vorliegend nicht die Auswahl eines falschen Arztes oder die Wahl einer falschen Methode als Fahrlässigkeit angelastet wird, sondern die Tatsache, daß tatsächlich niemals eine Behandlung – in welcher Richtung auch immer – stattgefunden hat, zumal die in Österreich mit dem Fall konfrontierten Alternativmediziner lediglich Ratschläge erteilten und insbesondere Dr. Leeb homöopathische Mittel ausschließlich zur Schmerzbekämpfung verabreichte, aber auch die einmalige Verabreichung eines homöopathischen Krebsmittels am 14. Juni 1995, somit einem vor dem Tatzeitraum gelegenen Zeitpunkt, keine Behandlung darstellen kann, ist doch die Hamer´sche Methode zur Bekämpfung von
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Krebserkrankungen eine ausschließlich auf Bereinigung seelischer Konflikte ausgerichtete Methode, die davon ausgeht, der Krebs werde nach Konfliktlösung von selbst verschwinden, die aber aktiv zur Heilung nichts beiträgt und wurde auch die von Dr. Mann vorgeschlagene Operation, der nicht zwangsläufig eine Chemotherapie folgen mußte, abgelehnt, für welche Haltung die Angeklagten jedenfalls keine überzeugende Erklärung zu bieten vermochten. Die Verneinung objektiver Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens der Angeklagten durch die Berufung scheitert schon daran, daß auch jene Alternativmediziner, auf die sich die Angeklagten ständig berufen, nämlich Dr. Rozkydal, Dr. Leeb und Dr. Loibner eine Krebsbehandlung des Kindes nach rein homöopathischen Grundsätzen, aber auch nach der Methode Dris. Hamer abgelehnt und dabei zumindest auf die notwendige Operation hingewiesen, wenn nicht gar die Durchführung einer Chemotherapie empfohlen haben. Auch zeigt die Vernehmung des Zeugen Dr. Leeb (ON 142, Band VII), Ing. Pilhar habe ausdrücklich erwähnt, er wünsche für Olivia keine Chemotherapie und sei der Zeuge mit seinem Anraten, einen weiteren Urologen aufzusuchen, auf taube Ohren gestoßen, keine allgemein nachvollziehbaren Gründe auf, sich dennoch ausschließlich auf die Methode Hamer zu verlassen. Es bleibt daher unverständlich und demgemäß vorwerfbar, daß die Angeklagten schon vor dem ihnen angelasteten Deliktszeitraum, nämlich am 13. Juni 1995 nach Vornahme einer Kontrolluntersuchung ein
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weiteres Wachstum des Tumors zur Kenntnis nehmen mußten (AS 353, Band V) , während ihnen Hamer nach seiner Untersuchung vom 25. Mai 1995 erläutert hatte, das Wachstum des Wilmstumors sei bereits ein abgeschlossenes Geschehen (AS 360, Band V) . Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten sich daher die Eltern von der Hamer’schen Methode, die bereits zu diesem Zeitpunkt als unzureichend feststand – wie von jedermann und demgemäß auch von den Angeklagten erkennbar war – abwenden und ihrem Kind die somit einzig verbleibende Chance der schulmedizinischen Wissenschaft angedeihen lassen müssen. Dieses Postulat hat um so mehr für die Folgezeit – den Deliktszeitraum – Geltung, in dem die Angeklagten ein weiteres Anschwellen des Bauches ihres Kindes, bedingt durch das bei Untersuchungen mehrerer Ärzte objektivierte Tumorwachstum sowie eine gravierende Verschlechterung des Allgemeinzustandes der minderjährigen Olivia wahrnahmen (AS 361, Band V), obwohl sie die nach Hamer einzig erfolgversprechende Konfliktlösung durch Aufgabe der mütterlichen Berufstätigkeit längst herbeigeführt hatten.
Wie bereits mehrfach deponiert, war dabei von untergeordneter Bedeutung, inwieweit das Krebsgeschehen im Zeitpunkt der Erstuntersuchung und allen weiteren bis zum Beginn des Tatzeitraumes unternommenen Konstatierungen durch Ärzte bereits fortgeschritten war und ob insbesondere schon damals ein weiteres bösartiges Geschehen in der Leber vorlag, ziehen doch sämtliche
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derartigen Veränderungen nach den Erkenntnissen der Schulmedizin eine – wenn auch abgewandelte – Behandlung mit Chemotherapie nach sich, wobei in diesem Sinne völlig dahingestellt bleiben kann, in welcher Konzentration bzw. Kombination von Medikamenten diese zur Anwendung zu bringen ist. Ganz eindeutig aber hat Dr. Hamer allein durch das Anraten liebevoller Pflege und Lösung psychischer Konflikte – die zweifelsfrei bei der vorliegenden Erkrankung stets hilfreich sein müssen – keine darüber hinausreichende aktive Heilbehandlung unternommen. Daß die Eltern trotz Kenntnisnahme fortwährender Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Kindes unbeirrt an Hamers Theorien festhielten, wurde den Angeklagten vom Erstgericht zu Recht als Fahrlässigkeit angelastet, hätte sich doch ein vor dieselbe Situation gestelltes Maßelternpaar jedenfalls nach erkannter Zustandsverschlechterung schulmedizinischen Methoden zugewandt und bei Vorbehalten gegen die Chemotherapie jedenfalls die Operation gewählt. Die Berufung, der durchaus zuzugeben ist, daß die Pharmaindustrie mit teuren chemotherapeutischen Mitteln enorme Umsätze macht, übersieht in ihrer die schulmedizinische Auffassung der Krebsbehandlung verteufelnden, die Vertreter dieser Richtung ausschließlich als Büttel der Pharmakonzerne darstellenden Haltung aber das vornehmlichste Anliegen eines jeden Arztes, nämlich den dringenden Wunsch, Krebserkrankungen zu heilen. Schon unter diesem Gesichtspunkt ist die Auseinandersetzung der Berufung
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mit dem Umstand, daß Dr. Scheithauer als Sohn eines ehemaligen stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden eines namhaften Pharmakonzerns im vorliegenden Falle nach ad hoc-Beeidigung als Gutachter auftrat, als ganz offene, durch den Akteninhalt in keiner Weise gedeckte Unterstellung eigennütziger, subjektiver Vorgangsweisen des Sachverständigen und Erstrichters zu bezeichnen, die als unsachlich zurückzuweisen ist.
Insoweit die Berufung eine Überprüfung der Richtigkeit der „Neuen Medizin“ anstrebt, erweist sich diese aufgrund des gegenständlichen Sachausganges als entbehrlich. Die von ihr ins Treffen geführten Bemühungen der Angeklagten, das Kind in einem spanischen Krankenhaus unterzubringen und die späteren Einflüsse und Eindrücke, die die Kindeseltern zu einer Abstandnahme der dortigen Heilbehandlung bewogen haben, blieben seitens des Erstgerichtes zu Recht unberücksichtigt, wird damit doch neuerlich dargetan, daß die Eltern dem Kind weiterhin keine Behandlung zukommen ließen. Das Argument, die Angeklagten hätten sich zwar gegen die Verabreichung einer Chemotherapie, nicht aber gegen die Durchführung einer Operation gestellt, ist schon durch die Tatsache, daß sie im Deliktszeitraum auch eine Operation nicht durchführen ließen, widerlegt. Mit dem Akteninhalt nicht in Einklang zu bringen ist die Behauptung, den Angeklagten sei während der Zeit in Spanien von den Behörden nicht der Eindruck vermittelt worden, ihnen stünden die Erziehungsrechte nicht mehr zu, ergibt sich
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doch aus dem Schriftverkehr der Interpol und der Aussage der Zeugin Dr. Marcovich eindeutig, daß sich im damaligen Zeitpunkt die Trennung des schwerkranken Kindes von den Eltern als die Gesundheit zusätzlich belastend dargestellt hat, aus welchem Grunde allein Olivia in deren Umfeld belassen wurde, ohne daß dieser Umstand an der Wirksamkeit des (den Angeklagten inhaltlich bekannten) Beschlusses des Pflegschaftsgerichtes vom 23. Juni 1995 etwas zu ändern vermochte. Daß die Angeklagten damals subjektiv einen anderen Eindruck hatten, erscheint auch dem Berufungsgericht nicht glaubhaft.
Insgesamt betrachtet überzeugen somit die Argumente der Schuldberufung nicht. Völlig zu Recht nahm das Erstgericht die Verwirklichung des Tatbestandes nach § 195 StGB in objektiver und subjektiver Hinsicht an, war es doch ausschließliches Bestreben der Angeklagten, das Kind dem Zugriff der österreichischen Behörden zu entziehen und war ihnen der telefonisch verlesene Inhalt des als Sofortmaßnahme erlassenen Beschlusses des Außerstreitrichters bekannt. Dennoch setzten sie ihre Flucht über mehrere Wochen sogar ins Ausland fort. Angesichts dieser Umstände bestehen aber keine Bedenken an der Erfüllung der subjektiven Tatseite der Angeklagten, die einen derartigen Beschluß bereits erwartet hatten.
Im Urteilsfaktum § 88 Abs.1, Abs.4, 1.Fall StGB haben die Angeklagten ihrer Tochter Olivia im Deliktszeitraum weder eine schulmedizinische noch eine andere
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geeignete Alternativbehandlung ihrer Erkrankung angedeihen lassen und trotz Erkennens einer massiven Gesundheitsverschlechterung des Kindes an der Methode nach Dr. Hamer festgehalten. Damit aber muß ihnen ein vom Verhalten eines in eine Vergleichssituation gestellten Durchschnittsmenschen abweichendes und damit objektiv sorgfaltswidriges Verhalten im Sinne fahrlässigen Handelns angelastet werden. Da ihnen auch subjektiv die Erkenntnis gegen die erwähnten Sorgfaltspflichten zu verstoßen nicht verwehrt war, besteht an der Erfüllung auch dieses Tatbestandes kein Zweifel.
Demgemäß war der Schuldberufung ein Erfolg zu versagen.
Letztlich ist auch der Strafberufung die Berechtigung abzusprechen. Unter Bezugnahme auf die Strafzumessungsrüge des § 281 Abs.1 Z 11 StPO behauptet die Berufung eine Mißachtung der Bestimmung des § 13 StGB durch Verhängung desselben Strafausmaßes über beide Angeklagte. Dabei führt sie begründend an, die Zweitangeklagte habe nicht einmal auf telefonischem Weg Kenntnis vom Inhalt des Gerichtsbeschlusses erlangt, weshalb von einer vergleichsweise nur geringen Schuld auszugehen sei. Sie kann aber eine Verletzung materiell-rechtlicher Vorschriften damit nicht dartun, ist doch die Zweitangeklagte als Mitbeschuldigte behandelt worden und trägt sie nach den festgestellten Strafzumessungsgründen dasselbe Maß an Schuld wie der Erstangeklagte. Dabei liegen tatsächlich keine Gründe vor, ihr
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strafgesetzlich verpöntes Verhalten in einem milderen Lichte zu sehen, hat sie doch in ihrer Verantwortung betont, sämtliche Schritte seien nach Beratung und Übereinkunft mit ihrem Gatten unternommen worden. Aus diesem Grunde ging das Erstgericht auch schlüssig davon aus, daß die Zweitangeklagte unmittelbar nach Kenntnisnahme des Inhaltes des Beschlusses vom 23. Juni 1995 durch den Erstangeklagten ebenfalls davon Kenntnis erhielt und sich dennoch in einverständlichem Zusammenwirken mit dem Erstangeklagten zu den zur Beurteilung gelangten Straftaten verstand. Von nicht aktueller Kenntnis der tatsächlichen Sach- und Rechtslage und vergleichsweise geringer Schuld der Zweitangeklagten kann daher nicht die Rede sein. Tatbegehung aus achtenswerten Beweggründen im Sinne des § 34 Z 3 StGB liegt gleichfalls nicht vor, weil nicht hinreicht, daß das Tatmotiv bloß menschlich begreiflich ist, sondern als achtenswert nur solche Motive gelten, die auch einem rechtstreuen Menschen die Verübung einer strafbaren Handlung nahelegen. Davon aber kann im vorliegenden Fall nicht im mindesten die Rede sein. Das uneigennützige Handeln und die Inkaufnahme schwerwiegender persönlicher Nachteile kann jedenfalls in Ansehung des Einbekenntnisses des Erstangeklagten, die Familie wurde von Spenden und Zeitungshonoraren leben, nicht nachvollzogen werden.
Da das Erstgericht die mildernden und erschwerenden Umstände richtig erfaßt und gewichtet hat und die
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Berufung zusätzliche Milderungsgründe nicht aufzeigen konnte, die verhängte 8-monatige Freiheitsstrafe aber angesichts des bis zu drei Jahre ermöglichenden Strafrahmens und der massiven Schuld der Angeklagten ohnehin moderat ausgemessen wurde, bestand zu einer Herabsetzung des Strafausmaßes kein Anlaß.
Damit aber mußte auch die unbegründete Strafberufung erfolglos bleiben.
Oberlandesgericht Wien
1016 Wien, Schmerlingplatz 11
Abt. 23, am 4. September 1997
Dr. Gehard Gallent