Spiegel: Kampf gegen die Stärksten
Der Spiegel, 07.08.1995
Das Krebskind Olivia, das in einer Wiener Kinderklinik ums Überleben ringt, wurde das Opfer in einem Glaubenskampf: Die Eltern, verführt durch einen irrwitzigen Krebsheiler, widersetzten sich der Behandlung. Fälle wie dieser versperren den Weg zu vernünftigem Abwägen: Welche Alternativmethoden können die Schulmedizin bereichern?
Ein kleiner Pandabär weist den Weg zu Olivia Pilhar. Das niedlich kauernde Tier schmückt die Orientierungstafeln in der Kinderklinik der Wiener Universität, es ist das Symbol, das Besucher zur Intensivstation geleitet.
Drei Elektroden kleben auf der Brust des sechsjährigen Mädchens, ein fingerdicker Schlauch leitet Sauerstoff durch die Nase zur Lunge, eine Ernährungssonde führt bis in den Magen.
Grüne Infusionspumpen drücken Medikamente über den Venenkatheter ins Blut. Sufenta, ein Morphinabkömmling, betäubt die Schmerzen, Antibiotika bekämpfen die Lungenentzündung, mit der Chemotherapie wurde begonnen. Die chemischen Keulen Vincristin und Adriblastin sollen den bösartigen Tumor im Bauch schrumpfen lassen.
Friedlich, wie in Narkose, liegt Europas derzeit bekannteste Krebspatientin auf ihrem Bett. Ein Monitor verzeichne jeden Herzschlag, den Blutdruck und die Sauerstoffversorgung.
Bisweilen unterbricht ein heller Glockenton die Stille – Routinealarm an den Geräten der anderen Kinder auf der Station. Jeden Tag rollen Pfleger das Mädchen auch noch zur Strahlenbehandlung: Die Geschwulst drückt auf den rechten Lungenflügel und preßt die untere Hohlvene zusammen. Sie droht lebensnotwendige Organe abzuschnüren, ehe die Chemotherapie greift.
Zwei Monate quälender Flucht vor der Schulmedizin sind zu Ende. Währenddessen ist der unbehandelte Tumor im Bauch des Mädchens auf 5000 Milliliter angewachsen, so groß wie ein Fußball.
Gegen Ende der Woche gab es erste Hoffnungszeichen. Unter dem Einfluß von Strahlung und Zellgiften hielt die Krebsgeschwulst in ihrem Wachstum inne, der Tumor nahm etwas an Größe ab, die Lungenentzündung ging zurück. „Vielleicht haben wir Glück und bringen das Kind durch“, hofft ein Mitglied des 30köpfigen Ärzteteams, das sich jetzt um die kleine Patientin kümmert.
Während Österreichs erfahrenste Krebsspezialisten um das Leben von Olivia Pilhar ringen, sitzt der Vater des Mädchens nachmittags vor dem Krankenhaus auf der Terrasse des „Cafe Clinicum“.
„Die Wahnsinnigen da drinnen werden mein Kind umbringen“, behauptet Helmut Pilhar, 30. Mit selbstgefälligem Lächeln doziert der gelernte Computertechniker stundenlang, wie die „Neue Medizin des Doktor Hamer“ Olivia hätte retten können. In Griffweite liegt ein Mobiltelefon, das ihn mit dem tief verehrten deutschen Wunderheiler und dessen Anhängern verbindet.
Um zu verhindern, daß Hamer-Jünger in die Behandlung des Kindes eingreifen, hat die Klinik den privaten Sicherheitsdienst Group 4 engagiert. Auch Vater Helmut darf das Krankenhaus nicht betreten. Die Klinikleitung fürchtet, er könnte an Olivias Bett die lebensrettenden Schläuche herausziehen.
„Mein Mann kann noch nicht einmal ein Pflaster abreißen“, entrüstet sich Ehefrau Erika. In Wahrheit plage die Ärzte ein „schlechtes Gewissen, weil sie wissen, daß Doktor Hamer recht hat“, erklärt sie, während sie im Kaffeehausgarten aus einer Schüssel Salat ißt.
„Schade, daß Sie daran nicht ersticken“, zischt da eine Passantin. Erika Pilhar reagiert gelassen. „Diese Leute sind nur zu bedauern, sie sind uninformiert und aufgehetzt.“
Da mischt sich eine Verwandte ein, die mit den Eltern am Tisch sitzt: „Wie könnt ihr denn wirklich wissen, was das Beste für Olivia ist?“
Diese Frage beschäftigt die Öffentlichkeit seit Wochen, zuerst in der Alpenrepublik, jetzt auch in Deutschland und anderswo in Europa. Die hitzigen Debatten, die sich an ihr entzünden, machen deutlich, wie brüchig das Vertrauen in die Schulmedizin geworden ist – aber auch, wie unkritisch Kranke bei Wunderheilern Zuflucht suchen.
Ein Kind wurde zur Symbolfigur. Aber alle Beteiligten in dem Drama, das sich um den Fall des todkranken Kindes rankte, haben auch selbst daran mitgewirkt, daß die rührende Leidensgeschichte zum schrillen Spektakel wurde: der selbsternannte Krebsarzt Ryke Geerd Hamer, der das Kind und seine Eltern nach Spanien lotste und seine Schützlinge immer wieder in die Blitzlichter der Fotografen schob; die Eltern Pilhar , die zusammen mit anderen Hamer-Getreuen auf dem Stephansplatz in Wien eine (von kurzem Hungerstreik begleitete) Demonstration für die Lehren des Wunderdoktors veranstalteten; und auch die Ärzte der Wiener Uniklinik, die als „weiße Ritter der Schulmedizin schon bereitstanden“ (Süddeutsche Zeitung), das Kind den Segnungen der etablierten Heilkunst zuzuführen.
„Österreich blickt in den Bauch eines sterbenden Kindes“, kommentierte der Wiener Standard. Die Boulevard-Presse geriet außer sich: „Das Leiden des Krebsmädchens Olivia“, dichtete Bild, „schneidet sich wie ein Skalpen in unsere Herzen.“
Doch das todkranke Kind stand auch für die Konfrontation zweier ungleicher Systeme. Olivia, meinte die Zürcher Weltwoche, sei „zum Beweisstück“ geworden in der Auseinandersetzung der beiden klassisch verfeindeten Gruppen, der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin und der alternativen Heilkunst.
Um ihr schwindendes Prestige aufzubessern, schrieb das Schweizer Blatt, könnte die Schulmedizin „eine geheilte Olivia gut gebrauchen“. Andererseits zeige der Fall, wie „das Volk immer anfälliger wird für allerlei Übersinnliches“ : Zwischen 50 und 80 Prozent aller Krebskranken in Europa probieren im Verlaufe ihres Leidens, mindestens zusätzlich, alternative Heilmethoden aus.
Im Fall Olivia Pilhar hat der Irrweg ins Irrationale der Patientin schwer geschadet. Ehe sich die Eltern im Juni durch halb Europa auf die Flucht machten, lagen die Überlebenschancen des Kindes bei 95 Prozent. Im Juli waren es noch 50 Prozent, vergangene Woche aber, wie die Wiener Klinikärzte feststellten, nicht einmal mehr 10 Prozent.
Begonnen hat Olivias Krankengeschichte mit scheinbar harmlosen Bauchschmerzen, über die sie Mitte Mai im Häuschen ihrer Großmutter im niederösterreichischen Maiersdorf klagte.
Olivias Mutter Erika, 28, hatte sich für ihre drei Kinder früher verschiedentlich „Medikamente verschreiben lassen“, wie sie sagt, die Mittel dann aber doch „weggeschmissen“. Mit alternativen Heilmethoden liebäugelt sie schon länger; sie selbst leidet an einer Schuppenflechte, bei der die Schulmedizin in der Regel versagt.
Diesmal aber brachte die Mutter, weil sie eine Blinddarmentzündung vermutete, ihr zweitältestes Kind geradenwegs zum Arzt, ins Wiener Neustädter Krankenhaus. Sie trafen auf den Richtigen: Der Chefarzt ist ein erfahrener Kinderkrebsspezialist, Primar Olaf Arne Jürgenssen. Er diagnostizierte, am 18. Mai, einen „Wilms-Tumor im Frühstadium“, eine Krebserkrankung, der die Schulmedizin mit ungewöhnlichem Erfolg Paroli bietet: Wird die Geschwulst frühzeitig entdeckt, sind die Heilungschancen äußerst günstig (siehe Kasten).
Der Wilms-Tumor tritt fast ausschließlich bei Kindern bis zum sechsten Lebensjahr auf. In Deutschland erkrankt eines von 9000 Kindern an der Zellwucherung, die von innen her die Niere zerfrißt. Die meisten Kinder haben anfangs keine Schmerzen. Der Tumor macht sich durch eine leichte Schwellung des Bauches bemerkbar. Innerhalb weniger Wochen wächst er zu einer kopfgroßen Kugel heran.
Noch Anfang der siebziger Jahre waren die Heilungschancen beim Wilms-Tumor schlecht, erst mit dem Siegeszug der Zellgifte kam der Durchbruch. Annähernd neun von zehn Kindern können gerettet werden. Die Prognose sei inzwischen "so hervorragend", so das Fazit einer bundesweiten Wilms-Tumor-Studie, daß nur "wenig Spielraum für weitere Verbesserungen bleibt".
Bei kaum einen anderen Krebs schlägt eine Chemotherapie so gut an. Dei frühe Gabe von Zellgiften bewirkt in den meisten Fällen, daß der Tumor innerhalb von zwei bis drei Wochen um die Hälft schrumpft. "Wir können zuschauen, wie der Tumor von Tag zu Tag kleiner wird", berichtet der Kinderonkologe Dietrich Niethammer von der Uniklinik Tübingen. Gleichzeitig verhärtet sich das umliegende Bindegewebe zu einer Kapsel, schließt die Geschwulst ein und verhindert damit, daß sie bei der dann folgenden operativen Entfernung platzt und der Patient verblutet.
Der Primar überwies die Familie sogleich nach Wien ins St.-Anna-Kinderspital, Österreichs erste Adresse für krebskranke Kinder. Mediziner und Psychologen wissen um den Schock, den die Diagnose Krebs bei den Betroffenen auslöst. „Bei vielen setzt eine FIuchttendenz ein, weil sie die Krankheit nicht wahrhaben wollen“, erklärt Volker Witt, Kinderarzt mit onkologischer Fachausbildung im St.-Anna-Spital. Gefährlich werde es, wenn sie dabei an Scharlatane geraten, die einfache Heilung versprechen und den Kranken das medizinisch Notwendige vorenthalten.
Speziell auf den Kinderkrebsstationen, wo die Bilder von kahlköpfigen, hohläugigen kleinen Patienten besonderen Schrecken verbreiten, sind solche Panikreaktionen zu bemerken. Jedes zehnte Elternpaar auf seiner Station, schätzt Valentin Gerein, Leitender Arzt der Kinderonkologie am Kreiskrankenhaus Gummersbach, bittet ihn um Alternativen zur Chemotherapie. In jedem 50. Fall, so der Spezialist, drohen die Eltern, die Behandlung ihres Kindes abzubrechen. Gerein: „Alle Fälle, bei denen die Eltern aus der Therapie ausgerissen sind, endeten für das Kind tödlich.“
Die Eltern Pilhar folgten diesem Verhaltensmuster – mit fatalen Folgen für ihr Kind. Drei Tage nach der Krebsdiagnose stießen sie, durch Vermittlung einer Wiener Ärztin, auf den Wunderheiler Hamer. Bereits vier Tage später besuchte die Familie den verkrachten Mediziner, der seit mehr als einem Jahrzehnt mit seinen abstrusen Krebsthesen durch die Lande zieht, in seinem Kölner Domizil (siehe Seite 162).
Olivias Vater las sich in Hamers krausen Schriften fest. Die auf fünf angeblichen Naturgesetzen beruhende Hamersche Lehre beeindruckte den Computertechniker, der in seiner Verzweiflung nach schlichten Heilsversprechen jenseits der Schulmedizin gierte.
St.-Anna-Mitarbeiter spürten das Mißtrauen, das Olivias Eltern ihnen entgegenbrachten, als sie gegen den noch unsichtbaren Wilms-Tumor eine Chemotherapie vorschlugen.
Nur widerwillig ließen die Ärzte das kranke Kind und seine Eltern ziehen, die einer sofortigen Krebsbehandlung der Tochter nicht zustimmten. Immerhin hatte das Krankenhaus schon vier andere Patienten an den Krebsguru Hamer verloren – die Staatsanwaltschaft ermittelt in allen Fällen. Vermittlungsdienste leistet etwa die esoterische Buchhandlung Rydl in Mödling bei Wien. Insgesamt wurden 40 Fälle von ehemaligen Hamer-Patienten, die nach der Behandlung verstorben sind, bei der steirischen Ärztekammer zur Anzeige gebracht.
Daß der Fall Pilhar so eskalierte, verdankt Vater Helmut einem Medienmann, den er zufällig kannte, sowie einem Behördenvertreter, dem die Vormundschaft übertragen wurde, nachdem sich die Eltern geweigert hatten, ihre Tochter behandeln zu lassen: Journalist Bengt Pflughaupt vermarktete Olivias Schicksal in Presse und Fernsehen, der Wiener Neustädter Beamte Heinz Zimper wurde zu „einem Freund mit dem Herzen am rechten Fleck“, so Helmut Pilhar, der die Eltern in ihrer Verweigerungshaltung ungebührlich lange gewähren ließ.
Wochen waren seit der Diagnose schon vergangen, doch obwohl sie den Eltern das Sorgerecht entzogen hatten, zögerten die Behörden immer noch, die notwendige Behandlung durchzusetzen. Als eine Entscheidung näherrückte, redete Hamer den Eltern ein, „daß die Behörden hinter uns her sind und wir Österreich verlassen sollten“ (Pilhar). „Ganz Österreich“, so habe Hamer erklärt, „fahndet nach euch, um Olivia zu finden und letztendlich zu töten.“
Vier Mitglieder der Sekte „Fiat Lux“, Hamer und seinen abstrusen Thesen treu ergeben, verhalfen der Familie zur Flucht an den Chiemsee nach Bayern. Über die Schweiz reisten die Pilhars schließlich bis ins spanische Malaga.
„Pervers und widerlich“ nennt der Wiener Mediziner Witt, was er dort erlebte, als er mit der österreichischen Flugambulanz das Kind in die Alpenrepublik zurückholen sollte. Olivias Tumor war zu diesem Zeitpunkt schon so riesig, „wie wir das nur von den Slums in Afrika oder Asien kennen“. In krassem Widerspruch zu Hamers Prognose, das Mädchen sei bereits in der Heilungsphase, hatte Olivia weiter gefährlich abgenommen. Hamer überwachte das Auftreten der Familie und drängte das erschöpfte Kind zu einem sinnlosen Strandausflug.
Statt den Rücktransport energisch voranzutreiben, zauderte Österreichs Generalkonsul vor Ort. Die im Jet mitreisende Wiener Kinderärztin Marina Marcovich, eine umstrittene Frau, die wegen ihrer alternativen Behandlungsmethoden verdächtigt wird, den Tod mehrerer Frühgeborener verschuldet zu haben, meinte gar, man könne den Eltern „nicht zumuten, nach Österreich zurück zukehren“. Wieder verrann wertvolle Zeit.
Erst am Samstag vorletzter Woche, als der Zustand sich lebensgefährlich verschlechtert hatte, wurde das Kind endlich in die Wiener Klinik eingeliefert.
Zur Verschleppung der lebensnotwendigen Behandlung hatten auch die Medien beigetragen, die sich nun als Anwälte des kranken Kindes aufspielten. In unverantwortlicher Weise hatte zum Beispiel das Österreichische Fernsehen (ORF) dem Wunderheiler aus Köln eine Plattform verschafft.
In der populären ORF-Sendung „help-TV“ durfte Guru Hamer gegen den Krebsexperten Jürgenssen zum Wortwechsel antreten. Moderatorin Barbara Stöckl präsentierte die Debatte so naiv und ahnungslos, daß am Schluß Hamers Absurditäten als gleichrangig mit der wissenschaftlichen Position erschienen. „Sie sagen es so, Sie sagen es anders – da steht Aussage gegen Aussage“, resümierte Stöckl. Hamers Jünger, die sich die Eintrittskarten zur Live-Sendung gesichert hatten, klatschten euphorisch.
Das war aufs Haar genau die Situation, die 1982 der unbedarfte Moderator Udo Kölsch in der Bremer Talkshow „III nach neun“ herbeigeführt hatte: Damals gelang dem exzentrischen Tumor-Wunderdoktor mit seinen „Eisernen Regeln des Krebses“ ein gänzlich unverdienter Punktsieg über den angesehenen Kasseler Krebsspezialisten Ernst Krokowski (SPIEGEL 37/1982), der dem dreisten Hamerschen Auftritt rhetorisch nicht gewachsen war .
Von solcher Art waren schon in jener Zeit Triumphe der Scharlatane über die Vertreter der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Aber inzwischen haben sie noch leichteres Spiel: Die Bereitschaft des Publikums, sich irrationalen Heilsversprechen hinzugeben und dabei Quacksalbern aller Art auf den Leim zu gehen, ist im letzten Jahrzehnt enorm gewachsen.
Nie zuvor gab es ein derart reiches Angebot an paramedizinischen Heilmethoden und Heilern, die den Ärzten die Kundschaft abwerben – mit „alternativen“, „biologischen“ und „ganzheitlichen“ Behandlungsweisen, die allesamt dem geschärften Ökobewußtsein der Patienten verheißungsvoll erscheinen.
Das Fernsehen hilft den Wundertätern auf die Sprünge: Nachdem der „Geistheiler“ Eli Lasch bei „Schreinemakers Live“ einem Millionenpublikum via Bildschirm die Hände auflegen durfte, strömten massenweise Hilfesuchende in seine Berliner Praxis.
Der zunehmende Wunsch nach „sanften“, „giftfreien“ Behandlungsmethoden kommt den traditionellen Schulen paramedizinischer Heiler zugute: den Homöopathen wie den Naturheilern, die den Kranken mit Rübensaft und Urin, mit Kräutertinkturen („Phytotherapie“) und Rohkost zu Leibe rücken – alles nichts Neues: „Die Medizingeschichte ist bis in unsere Tage geprägt von dem Widerstreit zwischen Wissen, Glauben und Aberglauben“, konstatiert der Heidelberger Mediziner Hansjakob Mattern.
Zulauf finden auch – weniger harmlos – schamanenhafte Heilsbringer wie die Schweizerin Erika Bertschinger-Eicke, Chefin der Sekte „Fiat Lux“, die sich übersinnlicher Gaben rühmt und in ihrer Badewanne mit einem Silberlöffel „Athrumwasser“ anrührt. Bertschinger-Eicke („Uriella“) hält sich für ein „Sprachrohr Gottes“ und behauptet, mit ihren „spagyrischen Tinkturen“ oder „kosmischen Ätherampullen“ auch schwerste Erkrankungen heilen zu können. Arztbesuche verbietet sie ihren Klienten – zwei starben, weil sie sich daran hielten.
Von solchem magischen Hokuspokus distanziert sich die Gruppe der fernöstlich inspirierten Geistheiler; zwischen 5000 und 7000 der heilenden Feingeister praktizieren in Deutschland.
Zwanzig deutsche Geistheiler-Vereinigungen unterschiedlichster Ausrichtung haben sich im Mai dieses Jahres zu einem "Dachverband Geistiges Heilen" zusammengeschlossen. Vorsitzender ist der Psychologe Harald Wiesendanger, Autor des 500-Seiten-Werks „Das große Buch vom geistigen Heilen“.
Laut Wiesendanger laufen pro Jahr drei Millionen Deutsche zum Geistheiler und machen dort etwa 100 Millionen Termine. Egal, was der anwendet, ob zum Beispiel Qi Gong, Reiki oder Chakra-Therapie, es werden dabei „keinerlei therapeutische Mittel“ eingesetzt, weder Spritzen noch Pillen, Salben oder Bestrahlungsgeräte. Handauflegen genügt, denn was heilt, „scheint purer Geist“.
Wiesendangers Strategie ist klar: Er will, ohne Zank mit den Doktoren, seine Geistheilerzunft ins Heer der Medizinhelfer eingliedern, irgendwo zwischen den Masseuren und den Psychotherapeuten. In Großbritannien ist das schon gelungen, Vertreter der Geistheilerzunft praktizieren dort an vielen Kliniken.
Eher in die umgekehrte Richtung marschieren die paramedizinischen Heiler vom Typus Hamer. In diese Gruppe gehört auch der abtrünnige Chirurg Julius HackethaI, der zunächst als Patientenanwalt auftrat und ärztliche Mißstände aufspießte. Dann aber, in seiner Privatklinik am Chiemsee, verlor er sich in den abstrusesten Konzepten zur Krebsbehandlung: Mit dem von ihm entdeckten Prinzip der „Sexhormonblockade“, so behauptete der mittlerweile im „Eubios“-Wahn befangene Mediziner, ließen sich selbst fortgeschrittene Geschwülste „aller Krebsrassen“ hemmen.
Hamer und HackethaI, aber auch der zu Berühmtheit und Reichtum gelangte Münchner Hautarzt Nikolaus W. Klehr, der Krebskranken seine dubiose ATC-Therapie angedeihen läßt und sich dafür vom Präsidenten der Deutschen Krebsgesellschaft die Bezeichnung „Scharlatan“ einhandelte – sie alle gehören zu einer Gruppe von Heilern, die als Ärzte gestartet sind und ihre naturwissenschaftliche Terminologie weitgehend beibehalten haben: Ihre Theoriegebäude entwickeln die Abweichler auf dem Fundament naturwissenschaftlicher Begriffe und machen damit den Patienten Eindruck.
Dieser Heilertyp ist aggressiver als die Kräuterapostel und Geistheiler. Er liegt im Krieg mit der Schulmedizin, egozentrisch, querulatorisch, oft paranoid, aber charismatisch. Heiler dieses Schlages maßen sich regeImäßig an, auch Krebs und Aids zu kurieren – gerade jene Leiden, gegen die die Vertreter der Schulmedizin einstweilen noch mit stumpfen Waffen kämpfen.
Krebspatienten sind für Heiler und Scharlatane besonders leichte Beute. Denn die ungewisse Heilungsaussicht welche die Schulmedizin diesen Kranken eröffnet, wird obendrein erkauft mit einer häufig brutal anmutenden, nebenwirkungsreichen Therapie.
Was Ärzte in den Krebsstationen der Kliniken den Patienten zumuten, wirkt auf mitfühlende Laien nicht selten wie mitleidlose Quälerei. Unter Chemotherapie und Bestrahlung verlieren die Kranken ihre Haare, ihre Gesichter schwellen an, im Mund wachsen Geschwüre und Pilze, die Patienten fühlen sich elend und schwindlig, müssen den ganzen Tag erbrechen.
Wirken da nicht die sanften Angebote der Alternativmedizin, erscheinen nicht Musik- und Maltherapien, Antikrebsdiäten und immunstärkende Kraftfelder ungleich menschlicher?
Paradoxe Situation: Je weiter Wissenschaftler, Pharmakonzerne und Medizintechniker die ärztliche Heilkunst vorantreiben, desto mehr scheinen sich die Patienten vor ihr zu fürchten. Der Konflikt führt zu einem „Vertrauensschwund in die Schulmedizin“, wie der Freiburger Onkologe Gerhard Nagel auf einem vielbeachteten Symposium zum Thema Krebs und Alternativmedizin in St. Gallen feststellte.
Die Methoden der Krebsärzte, so führte Nagel weiter aus, seien für die Menschen „geradezu der Inbegriff einer ökologiefeindlichen Lebenseinstellung“ geworden: Strahlen und Zellgifte, gentechnische Verfahren, überdimensionierte Klinikapparaturen – all dies werde von vielen Patienten als „unwürdiger Eingriff in die menschliche Integrität“ aufgefaßt.
Eine neue Bescheidenheit predigte auf derselben Tagung der Nürnberger Krebsexperte Walter Gallmeier. Nach 30jähriger Klinikerfahrung hat er gelernt: „Kranke und Angehörige sind mit der heutigen Medizin zutiefst unzufrieden, obwohl Ärzte und Pflegende mit größtem Einsatz arbeiten.“
Nicht länger als allwissender Retter dürfe sich der Arzt aufspielen, eher in der Rolle des Begleiters und Gefährten für den Kranken verwirkliche er seinen Beruf. Eine „realistische Medizin, eine Medizin nach Maß“ sei vonnöten, die „das Defekt-Reparatur-Modell der Krankheit“, das die Schulmedizin noch immer bestimme, hinter sich läßt.
Unter Medizinern bahnt sich ein Paradigmen-Wechsel an. Mehr und mehr nehmen Ärzte zur Kenntnis, daß Körper und Seele sich nicht scharf trennen lassen. Beide sind miteinander verwoben und wirken aufeinander ein.
Speziell die Ergebnisse eines relativ neuen Wissenschaftszweiges, der Psychoneuroimmunologie, haben bisherige Vorstellungen von Krankheit verändert. Onkologe Gallmeier: „Ganze Organsysteme, von denen man bisher glaubte, sie funktionieren unabhängig voneinander, kommunizieren miteinander. Jede Zelle weiß um die Probleme der anderen und des Ganzen.“
Wie sehr solche Richtungsänderungen einem neuen, gewandelten Patiententyp entgegenkommen, das zeigt sich bereits in den Praxen der niedergelassenen Arzte. Damit ihnen nicht noch mehr Patienten zu den Heilpraktikern weglaufen, haben viele von ihnen die Angebotspalette erweitert – alternative Heilverfahren gehören nun vielerorts zum normalen Repertoire.
„Deutsche Ärzte voll im Trend“, meldete Ende letzten Monats das Fachblatt Medical Tribune. Bei einer Fragebogenaktion im Raum Kassel hatten sich fast zwei Drittel der antwortenden Mediziner, „Kliniker gleichermaßen wie Niedergelassene“, für den Einsatz „komplementärer Heilmethoden“ ausgesprochen.
Fast 40 Prozent der befragten Ärzte erklärten, sie hätten selbst mindestens eine alternative Methode im Angebot, vor allem bei chronischen oder bei Bagatellkrankheiten, „selten bei akuten und fast nie in Notfällen“. Am bekanntesten sind Akupunktur und Aderlaß, Homöopathie und Phytotherapie.
Zur Ehre des deutschen Ärztestandes gereichten andererseits die Negativbewertungen, die bei derselben Umfrageaktion zutage traten. Viele alternative Heilverfahren wurden als „berüchtigt“ und nebenwirkungsreich eingestuft, Ozon-, Frischzellen- und TrockenzelIentherapie als „gefährlich“ bezeichnet.
Mit Entrüstung reagierten konservative Schulmediziner unlängst auf eine Neuerung in der Approbationsordnung. Seit dem Wintersemester 1992/93 können Homöopathie und Naturheilkunde für angehende Ärzte im zweiten Staatsexamen Prüfungsfach sein.
Die Philipps-Universität in Marburg widersetzte sich dieser Entscheidung. Die Homöopathie, so die Marburger Humanmediziner, sei eine Irrlehre, deren Wirkprinzip auf Täuschung des Patienten beruhe, verstärkt durch die Selbsttäuschung des Behandlers. Eine neutrale Ausbildung in Homöopathie werde deshalb an der Marburger Uni nicht stattfinden.
Mit ähnlicher Entschiedenheit warnte die Deutsche Krebsgesellschaft, gemeinsam mit zwei anderen ärztlichen Dachgesellschaften, in einem Positionspapier vor unseriösen Heilverfahren in der Onkologie. Angesichts von 60 000 Krebspatienten pro Jahr , die solche Alternativangebote wahrnehmen, müsse darauf hingewiesen werden, daß den weit über hundert verschiedenen einschlägigen Verfahren und Mitteln, die in der alternativen Krebsbehandlung angeboten werden, eines gemeinsam sei: „Ihre Wirksamkeit ist nicht oder zumindest nicht zweifelsfrei bewiesen.“
Dieses Defizit allmählich aufzufüllen halten viele Onkologen für wünschenswert, allen voran Krebsspezialist Gallmeier. In einem Strategiepapier für eine „Projektgruppe biologische Krebstherapie“ warnte er allerdings vor übertriebenen Erwartungen: Die Hoffnung, man könne alternative Behandlungsverfahren mit wissenschaftlichen Methoden „rasch und zweifelsfrei“ auf ihre Wirksamkeit prüfen, sei „unrealistisch“.
Gallmeier und seine Mitarbeiter wollen nicht nur alternative Medikamente und Behandlungsverfahren, die „häufig in rascher Folge kommen und gehen“, unter die Lupe nehmen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Krebs und Seele.
Möglicherweise, so erläuterte Gallmeier, sei die positive Wirkung, die unbestritten in Einzelfällen von alternativen Heilverfahren oder Medikamenten ausgehe, gar nicht auf pharmakologisch-physikalischer Ebene zu erklären. Sie könne auch über geänderte Verhaltensweisen und veränderte innere Einstellungen zur Krankheit zustande kommen – auch solche psychischen Parameter müßten wissenschaftlich untersucht werden. Psycho-Onkologie, so der Nürnberger Wissenschaftler, sei „ein unverzichtbarer Teil des Projektes“.
Derlei Zusammenhänge zwischen Psyche und Krebs, zwischen seelischer Befindlichkeit und der Chance, die Krankheit zu bewältigen, sind der schulmedizinischen Wissenschaft seit langem bekannt (SPIEGEL-Titel 45/1977). Als medizinische Binsenweisheit gilt mittlerweile, daß seelische Faktoren den Krankheitsverlauf positiv oder negativ beeinflussen können – bei Krebs ebenso wie bei Schnupfen oder Herzkrankheiten.
Aber solche Tatbestände haben nichts zu tun mit der von Ryke Geerd Hamer vertretenen absurden Theorie, ein einziger Seelenkonflikt könne binnen weniger Monate eine lebensbedrohliche Krebsgeschwulst wachsen lassen.
Gegen diesen Unfug hatte schon bei Hamers Fernsehauftritt 1982 der Krebsexperte Krokowski den biologischen Befund gesetzt, daß sich in einer Geschwulst von einem Zentimeter Durchmesser bereits zwischen 20 Millionen und einer Milliarde Zellen befinden, daß der Tumor mithin von der Entstehung bis zur Nachweisgrenze „ungefähr drei, in manchen Fällen sogar bis zu zehn Jahre braucht“.
Exzentriker Hamer, schon damals ein ärztliches Irrlicht mit flackerndem Blick, ließ sich durch die Einwände der Wissenschaft nicht beirren.
Mit dem Versprechen, er könne jeden Krebs durch die Bearbeitung des zugrunde liegenden Seelenkonflikts heilen, ging der studierte Mediziner und Theologe auf Patientenfang. Die erwartbaren Mißerfolge und die Behandlung schwerstkranker Krebspatienten in einem als Privatpension deklarierten Haus ohne behördliche Genehmigung führten zur Schließung seiner „Fachklinik“ durch Gerichtsbeschluß. Wenig später verlor er seine Approbation als Arzt.
Die Zahl der Patienten, die im Laufe der Jahre mit Hamers Heilsversprechen in den Tod gegangen sind, läßt sich nicht ermitteln. Von 50 Krebspatienten, die von Hamer behandelt wurden und deren Schicksal deutsche Behörden überprüften, überlebten nur 7.
Einer der Hamer-Fälle, die vor Gericht verhandelt wurden, spielte 1989 in Hamburg. Schon seit einigen Monaten hatte der damals 18jährige Schüler Ansgar Wetz (Name von der Redaktion geändert) heftige Schmerzattacken im Knie verspürt. Die Arzte diagnostizierten Knochenkrebs. Sein Onkel empfahl ihm einen Besuch bei Hamer. Der Kölner Wunderdoktor legte das schmerzende Bein in Gips, damit der Tumor „verkalken“ könne. Hamer versprach: „In sechs Wochen bist du geheilt.“
„Er hat an Hamer geglaubt“, erinnert sich Ansgars Mutter, „aber seine Schmerzen wurden immer schlimmer, es war ein Irrsinnsschock für ihn.“ In der Hamburger Uniklinik bekämpften schließlich Schulmediziner die inzwischen stark gewachsene Geschwulst mit einer zehnwöchigen Chemotherapie. Das von Krebs befallene Bein mußte amputiert werden, der Eingriff rettete dem jungen Mann das Leben; er studiert jetzt in Göttingen.
Hamer mußte sich wegen seiner unsinnigen Gipstherapie vor dem Kölner Landgericht verantworten. Der Wunderheiler wurde, wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz, zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Vor Gericht suchte sich Hamer herauszureden, er habe „nur Erste Hilfe geleistet“, denn das sehe „doch jede Putzfrau auf dem Röntgenbild, daß da ein Knochenbruch vorlag“.
Ob sich Krebsheiler Hamer auch durch die Torturen, in die er die tumorkranke Olivia Pilhar stürzte, nach deutschem Recht strafbar gemacht hat, ist einstweilen unklar. Zwar wird er von Wien aus mit internationalem Haftbefehl wegen „Quälens oder Vernachlässigens unmündiger Personen“ gesucht. Doch im deutschen Strafgesetzbuch fehlt ein entsprechender Paragraph.
Die Kölner Staatsanwaltschaft, die für den Fall zuständig ist, muß nun prüfen, ob sich Hamer, indem er die Eltern davon abhielt, Olivia in einem regulären Krankenhaus behandeln zu lassen, der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht hat.
In sein geschlossenes Wahnsystem hat er die Eltern Pilhar inzwischen tief hineingezogen. Und längst trägt auch ihr Umgang mit der Außenwelt paranoide Züge. Besonders bei dem Vater des sterbenskranken Kindes tritt ein deutlicher Realitätsverlust zutage.
Obwohl ihm seine Firma inzwischen gekündigt hat, glaubt Helmut Pilhar sich keine finanziellen Sorgen machen zu müssen. Er habe für ein Haus gespart, da könne er auf einiges zurückgreifen. „Der Kampf, den ich jetzt führe, ist viel wichtiger als das Häuselbauen.“
Indem er fest zu Hamers Heil-Ideen stehe, redet sich Vater Pilhar ein, habe er sich jetzt „mit den Stärksten angelegt“, mit dem ganzen medizinisch-industriellen Komplex. Hamer, dahin hat sich der schlichte Computertechniker verstiegen, habe Kopernikanisches geleistet: „Er hat herausgefunden, daß sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht.“ Das aber müßten die Schulmediziner „verschweigen und unterdrücken, denn sonst könnten sie einpacken“.
Mit seltsamer Schicksalsergebenheit hat Helmut Pilhar begonnen, sich in seiner neuen Rolle als Märtyrer einzurichten. Überall wittert er „mächtige Gegner“. Die von ihm selbst ausgelöste Flut der Presseberichte empfindet er jetzt als „reine Volksverhetzung“. „Nicht aus Blödheit, sondern aus vollem Bewußtsein um die Kraft der Erkenntnisse Hamers“, so phantasiert der Vater der Krebskranken auf der Kaffeehaus-Terrasse, „sind die Ärzte dabei, mein Kind zu töten.“
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wenn ihre Eltern sie nicht irrgläubig den Medizinern entzogen hätten, könnte die Sechsjährige ihre drückende Krebsgeschwulst schon fast besiegt haben. In diesen Tagen würden Ärzte und Schwestern in der onkologischen Station des Wiener St.-Anna-Kinderspitals für die Patientin Olivia das Abschiedsfest vorbereiten.