Spiegel: Ich bin der Jäger, nicht der Gejagte

Der Spiegel, 07.08.1995
„Ich bin der Jäger, nicht der Gejagte“
SPIEGEL-Reporter Jürgen Neffe über den Krebsheiler Ryke Geerd Hamer

Über sich selbst redet er gern in der dritten Person: „Den Hamer“ , sagt Dr. med. Ryke Geerd Hamer, 60, „den kriegen die nicht klein.“

Denn der Hamer, der „berühmteste Entdecker der Weltgeschichte“ (Hamer) und „fanatische Wunderheiler“ (Bild), der ist groß und stark: ein Ritter, dem hilflose Eltern ihre Kinder anvertrauen. Weil er, und nur er, Antworten weiß auf ihre furchtbaren Fragen nach dem Bösen, nach Tumoren und Metastasen, ein Doktor, wie sie sich ihn wünschen, der keine Zweifel kennt und der verspricht, den Krebs im Körper der Kleinen nicht nur erklären, sondern auch besiegen zu können.

So muß der „Krebsarzt Dr. Hamer“, wie schon vielen Verzweifelten, auch den Eltern der sechsjährigen Olivia erschienen sein, die ihre Tochter mit einer Geschwulst im Bauch zu ihm brachten: eine Lichtgestalt angesichts des Schicksals, das Kind durch Krebs zu verlieren, und ein Retter vor den Unbilden der grausamen Schulmedizin.

„Gebt mir Todkranke!“ verlangt er, denn „Krebs ist heilbar“. Und wie das bösartige Wuchern im Kleinen bekämpft er auch das Böse im Großen, die „tödlichen Therapien“ der Onkologen gegen Krebs, insbesondere Strahlen- und Chemotherapie.

So sieht er sich, der Hamer, als großer Held der kleinen Leute, die lieber ihm vertrauen als den „Medizynikern“ mit ihrem „Chemo-Arsenal“. Die sollten ihn mal sehen, hier, in seinem Kölner Domizil in der Sülzburgstraße 29, wo er sich versteckt vor den „Jauche-Fritzen“ von der Boulevard-Presse und sich freut über jedes gelungene Wort und sich zurücklehnt in die Couch mit dem bunten Schonbezug, die er fast ausfüllt mit seiner massigen Gestalt. Da sitzt er zwischen den zusammengekauften Möbeln, vor sich Fotos von fußballgroßen blutigen Geschwülsten, dazu Röntgenbilder und pralle Aktenordner, und verteidigt standhaft seine Lehre der „Neuen Medizin“, die mit ihren „fünf biologischen Gesetzmäßigkeiten“ die alte Heilkunde mit ihren "5000 unbewiesenen Hypothesen" überflüssig machen soll.

Einer gegen alle, allein gegen den Rest der Welt, so gefällt er sich und seinen Anhängern. Soll ihm doch seine Approbation aberkannt bleiben, die ihm 1986 entzogen worden ist. Soll man ihn doch Scharlatan und Quacksalber nennen, ihn verfolgen, ihn anklagen. „Da lacht der Hamer“, sagt der Hamer.

„Staatsanwaltschaft und Staatsmedizin“ seien wie die „Gülle-Presse ein Teil der Weltherrschaft“ und verfolgten ihn doch nur, weil er „in Wirklichkeit das System stürzen will“. Er sei „der Staatsfeind Nummer eins“, allein deshalb gebe es „das einzige Bestreben, den Hamer kaputtzumachen“ – nicht wegen der „armen Olivia“: „Da habe ich nicht die Spur eines schlechten Gewissens.“

„Ich habe doch nichts getan“, schwört Hamer, als liefere er damit die Entschuldigung und nicht den Beleg für das Vergehen, das man ihm vorwirft: Da er Krankheit für ein „biologisch sinnvolles Sonderprogramm der Natur“ hält und Krebs für einen Teil des Heilungsprozesses („eine Heilungsphase, in der jetzt Olivia dreifach drin war“), sieht er in der Chemotherapie eine „gefährliche Pseudotherapie“. Doch gerade die Empfehlung an Eltern, nichts zu machen, wird ihm zur Last gelegt.

Seine Taten sind seine Worte. Wer sich einläßt auf die ruhige, einschmeichelnde Art seiner Rede, den scheint er mit seiner sanften, aber stets durchdringenden Stimme regelrecht ergreifen zu wollen. Hat er einmal zugepackt, läßt er Partner wie Gegner zappeln in einem Gewirr aus polemischen Behauptungen und wissenschaftlich klingenden Beweisen, dogmatischer Polterei und einsichtiger Nachdenklichkeit.

Dabei spielt er sein ganzes Spektrum von Sprache und Haltung aus: mal jovialer Partner, mal väterliche Autorität, hier weise lehrend, dort leise drohend. So entsteht eine Mischung aus warmherziger Nähe und kaltem Charisma, das an die bedrohliche Strahlkraft von Sektenführern erinnert.

Das Unsystem der Schulmedizin war ein frustalerweise reanimierter Kadaver, bis der böse Hamer kam“, predigt er. Anders als Wunder- und Geistheiler, die ihre übernatürlichen Kräfte nicht erklären können, glaubt Heiler Hamer die Medizin mit einem hieb- und stichfesten naturwissenschaftlichen Gegenentwurf herausfordern zu können.

„Man weiß, daß 95 Prozent der Patienten durch Chemo sterben“, wiederholt er eindringlich einen seiner Standardsätze. Jeder Arzt weiß um die Unzulänglichkeit der Chemotherapie bei etlichen Krebsarten. Daß aber gerade Wilmstumore, wie das Nierensarkom Olivias, bei frühzeitiger Behandlung zu 90 Prozent heilbar sind, bestreitet er schlichtweg. Das seien Daten der „Chemo-Mafia“, und „das einzige, was ich hasse, ist Mafia“.

Da „Ovarial- und Nierenzysten“, wie er behauptet, „nach dem Rhythmus einer Schwangerschaft verlaufen“, dürfe man in den ersten neun Monaten nicht operieren. Denn so lange brauche die Zyste, um zu „ verkäsen“ – und zwar mit Hilfe von Tuberkel-Bakterien, die das Gehirn losschicke, wie von „Mutter Natur“ vorgesehen. Jeder Krebs entstehe mit einem „allerschwersten hochakut-dramatischen und isolativen Konflikterlebnisschock“. Durch den „biologischen Konflikt“ werde ein bestimmtes Hirnareal umgeschaltet – Heilung sei nur nach „Conflictolyse“ möglich.

Sein Hodenkrebs – Initialzündung für seine Krebstheorie

Die „Eiserne Regel des Krebses“, laut Hamer „die Zentralentdeckung für die gesamte Medizin“, hängt eng mit einer biographischen Zäsur in seinem Leben zusammen, dem Tod seines Sohnes Dirk. Der 19-jährige war im Sommer 1978 aus bis heute nicht geklärtem Grund von dem italienischen Prinzen Vittorio Emanuele von Savoyen angeschossen worden und erlag, in den Armen seines Vaters, im Dezember desselben Jahres seinen Verletzungen. Zwei Wochen danach erkrankte Hamer an Hodenkrebs – Initialzündung für seine Theorien über den Zusammenhang zwischen Konflikt und Krebs, die er vom Sohn aus dem Jenseits empfangen haben will. Jede Erkrankung beginnt danach mit einem „Dirk-Hamer-Syndrom“.

So hat sich der Arzt nach und nach ein triviales, auf den ersten Blick aber einleuchtendes Modell von der Entstehung aller Krankheiten zusammengezimmert, das zu begreifen allein „gesunden Menschenverstand“ erfordere. Geschickt leuchtet er die Schwachstellen der „Staatsmedizin“ aus, macht den Patienten zum „absoluten Chef des Verfahrens“, dem der Arzt „wie ein guter Freund zur  Seite stehen“ soll.

In jedem Leben lassen sich natürlich beliebig viele „biologische Konflikte“ ausfindig machen. Hamer greift sich den passenden heraus – und hat automatisch richtig diagnostiziert. Die „kleine Olivia“ habe einmal gesagt: „Die Oma kocht einen Fraß.“ Klarer Fall von „Verhungerungskonflikt“. Vor ein paar Jahren hat man ihm ein Kind mit einem gefährlichen Knochenkrebs gebracht. Hamers „Anamnese“ ergab einen „Sportlichkeitsselbstwerteinbruch“ wegen eines verlorenen Tennismatches. Das dicke Knie deutete er als Zeichen der Heilung. Die Eltern sollten warten, „bis sich das Osteosarkom von allein rekalzifiziert“ habe. Das System Hamer funktioniert nach einem einfachen und leicht durchschaubaren Prinzip: Wenn es gutgeht, war es seine Leistung, wenn es schiefgeht, waren die anderen schuld. Selbst an den Fall von Katharina S., deren Eltern 1991 nach der Leukämiediagnose bei ihrer dreijährigen Tochter zunächst die Behandlung verweigerten und in die USA flohen, suchte sich Hamer anzuhängen – nicht ohne Erfolg. Das Kind habe einen „Selbstwerteinbruch“ erlitten und in der Heilungsphase eine Leukämie bekommen.

Als die Kleine (nach einer Chemotherapie) scheinbar wieder gesundet war, meldete die Bunte: „Daß sie noch lebt, verdankt Katharina einem außergewöhnlichen Mann: Dr. Geerd Hamer.“ Der aber hatte weder Eltern noch Kind je gesehen. Als das Mädchen 1993 dann plötzlich doch starb, hatte er natürlich auch die Todesursache parat: „Gestorben an der Chemo.“

Eine 25-jährige Frau aus dem Schwäbischen berichtet, wie „der fanatische Hamer“ ihrer 47-jährigen Mutter mit verlockenden wie verlogenen Verheißungen zugesetzt habe: Er könne sie heilen, verspricht er der Krebskranken, doch dürfe sie nicht weiter zu Hause wohnen. Also fliegt sie auf seine Empfehlung nach Malaga und geht ins Hotel Las Vegas – laut Tochter „ein Dreh- und Angelpunkt von Hamers Aktivitäten“, wohin er auch Olivia und ihre Eltern von Wien aus gelotst hat.

Als es der Frau dort zunehmend schlechter geht, rät ihr Hamer bereits nach vier Tagen zu einem erneuten Ortswechsel. Sie reist nach Mallorca, wo sie der praktische Arzt Johannes B. „behandelt“, ein Anhänger von Hamers „Neuer Medizin“. Gegen die „wahnsinnigen Schmerzen“ gibt er ihr gemäß der Hamer-Doktrin nichts. Er legt ihr nur die Hände auf und versichert: „Das heilt.“ Der Tochter sagt er am Telefon: „Das sind positive Krebsgeschwüre, Ihre Mutter ist nur nicht stark genug.“

An einem Sonntag morgen im April 1995 ruft B. sie an und sagt barsch: „Holen Sie Ihre Mutter, es geht nicht mehr lange.“ Noch drei Tage habe die Mutter gelebt, aber so „elendig, die hätte schon auf dem Flug sterben können“.

Später schickt B. der Tochter eine Rechnung, in der er penibel sogar zwei Decken für den Transport abrechnet. In Malaga und Mallorca, erzählt sie, da sei „schwarz“ bezahlt worden. Es seien „große Geldbeträge geflossen“. Geerd Hamer widerspricht, von solchen Zahlungen wisse er ebensowenig wie von irgendwelchen Sektenzusammenhängen der „Neuen Medizin“. Er sei „bettelarm“, seine Haupteinnahmequelle seien neben Spenden die Erlöse für seine Schriften, vertrieben von der „Amici di Dirk Verlagsgesellschaft“ in seiner Kölner Wohnung.

„Etwa 50000 meiner Bücher sind unterwegs“, schätzt er, „auch Klinik-Direktoren und Onkologen“ würden nach seiner Methode behandeln, „aber die lassen das nicht nach außen“. Und seine Audio-Kassetten, „die gehen von Bett zu Bett“. So schleicht sich der Hamer in das Bewußtsein von Tausenden.

Doch von Hoffnung wie hypnotisiert sind vor allem jene, die dem Mann gegenübertreten und ihn, wiewohl manisch verrannt, für ein verkanntes Genie halten. Wer sich einmal, wie Olivias Eltern, auf seine eingängigen Thesen eingelassen hat, kann kaum noch zurück: Sie würden zu Tätern an ihrem Kind, stimmten sie „der Chemo“ zu, dem Unterbrechen der „natürlichen Heilung“.

Es ist freilich kein schwieriges Unterfangen, die schulmedizinische Krebsbehandlung zu verteufeln: Wer einmal das elende Leiden und Sterben auf Kinderkrebsstationen gesehen hat oder auch nur die wie kahlgeschorene Häftlinge anmutenden Glatzenkinder, kann leicht davor zurückschrecken, seinem eigenen Kind so etwas anzutun.

Dem Krebsarzt Dr. Hamer hätte das von ihm verhaßte „System“ keinen größeren Gefallen tun können, als Olivia in die Krebsabteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien zurückzubringen. „Ich glaube, daß Olivia ein Meilenstein werden wird“, frohlockt der Doktor, „weil sie der Neuen Medizin zum Durchbruch verhelfen wird.“

Wenn Selbstbewusstsein zum Hauptinhalt des Bewußtseins wird und Allmachts- und Erlöserphantasien einen Menschen beherrschen, läuft in seinen Augen alles zu seinen Gunsten. Das Kind habe, seit es an die Apparate angeschlossen sei, „blaue Beine“, haben Hamers „Informanten“ in Österreich ihm mitgeteilt.

„Die ist doch schon tot“, sagt er, als hoffe er geradezu auf Olivias Ableben, „getötet von der Chemo.“ Sie werde nur noch künstlich am Leben gehalten, um ihm eins auszuwischen. „Aber ich bin nicht der Gejagte“ , triumphiert er, „ich bin der Jäger.“

Und dann redet er von sich wieder in der dritten Person: „Der Hamer ist in drei Minuten mit seinen Gegnern fertig.“ Auch wenn sie ihn verhaften und verurteilen? „Auch darüber lacht der Hamer“, sagt der Hamer und lacht. Wo andere ihn als Psychopathen am Ende wähnen, fühlt er sich wie ein Glaubenskrieger kurz vor dem Endsieg: „Sollen die mich doch ins Gefängnis stecken. Dann machen sie mich wirklich zum Märtyrer.“

Die größte Amplitude des Ausdrucks erreicht er mit dem Gesicht: vom offenen, einladenden Lachen bis hin zur finsteren Fratze mit bohrendem Blick. Wenn er einem nahe kommt, die Augenbrauen hebt, die engstehenden hellblauen Augen aufflackern läßt und Sätze wie Salven hinausbellt, dann kommt er tatsächlich dem Dämon nahe, zu dem ihn die „Gülle-Presse“ macht.

Die Niederlage der „Medizyankaliker“, Olivias Tod, würde er allein als seinen Sieg verbuchen. Der Mann bewegt sich in einem geschlossenen System, wo er sich selbst immer recht geben kann: „Die können mich ruhig als Frankenstein bezeichnen“ – Hauptsache, alle blicken auf ihn, den Hamer.

Die Arbeitsgruppe der Germanischen Heilkunde wünscht Ihnen fröhliches Frühlingserwachen!
wenn die Krokusse blühen...
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