Wunderheiler Hamer darf den Ärzten nur noch zusehen

Berliner Zeitung, 24.07.1995 PDF
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Das Schicksal einer krebskranken Sechsjährigen, die von ihren Eltern nach Spanien entführt wurde, wühlt ganz Österreich auf

Politik - Seite 6, Hannelore Hegyi, Wien

Die Irrfahrt der krebskranken Olivia Pilhar ist beendet: Die Sechsjährige ist seit Donnerstag in der Obhut spanischer Ärzte. Doch ihr Schicksal hat Fragen aufgeworfen, die nicht nur Österreich weiter beschäftigen.

Olivia leidet an einem Wilms-Tumor an Niere und Leber, der derzeit bereits so groß wie ein Handball ist. Als die Ärzte im Wiener St.-Anna-Kinderhospital vor vier Wochen noch vor der notwendigen Operation eine Chemotherapie einleiten wollten, legte der Vater sein Veto ein, um seinem Kind die belastenden Nebenwirkungen zu ersparen. Statt dessen wandten sich Olivias Eltern an Ryke Geerd Hamer aus Köln.

Für Hamer, der zeitweise im österreichischen Burgau in einem Schloß lebt und von dort aus seine Bücher vertreibt, ist Krebs "eine Krankheit der Seele", die durch Konflikte hervorgerufen wird und ergo auch nur durch Konfliktbewältigung heilbar ist. 1986 wurde ihm in Deutschland die Approbation wegen "monomaner Idee mit massivem Realitätsverlust" entzogen. 1990 erhielt er drei Monate Haft auf Bewährung, als er ein krebskrankes Kind mit einem Gipsverband "behandelte". Dank seiner "Therapie" verschlechterte sich auch Olivias Zustand so drastisch, daß die Staatsanwaltschaft den Eltern das Sorgerecht entzog. Daraufhin flohen sie mit der dickbäuchigen, schmerzgeplagten Olivia (Originalton Hamer: "Schmerzen gehören zum Heilprozeß!") ins spanische Malaga, wo sie von der Polizei aufgespürt und samt mitgereistem Wunderheiler dem Jugendrichter vorgeführt wurden. Mit einer Maschine der österreichischen Ärzteambulanz wurde ein Ärzteteam eingeflogen, um das Kind nach Wien zurückzubringen. Die Mediziner mußten jedoch erkennen, daß dies nur mit Gewalt möglich wäre.

Streit um Verantwortung

Eine österreichische Kinderärztin erzielte schließlich nach stundenlangen Verhandlungen mit den Eltern einen Kompromiß: Seit Donnerstag abend liegt Olivia in der Universitätsklinik von Malaga. Hamer, der bereits vier Kinder aus dem St.-Anna-Spital auf dem Gewissen hat und
dem die Eltern dennoch wie einem Guru vertrauen, darf in der Klinik anwesend sein, doch die spanischen Ärzte übernahmen die Alleinverantwortung für die Behandlung.

Inzwischen diskutiert man in Österreich über die grundsätzlichen Fragen, die "der Fall Olivia" aufwirft. Inwieweit können Eltern über Leben und Tod ihres Kindes befinden? Ist der Entzug des Sorgerechts der richtige Lösungsweg? Ist die Schulmedizin noch imstande, Vertrauen zu gewinnen? Man müsse sich in Krebsfällen weitaus mehr als bisher mit der Psyche der Angehörigen beschäftigen, urteilen jetzt führende Ärzte.

Stark engagiert hat sich auch Gesundheitsministerin Christa Krammer. Sie will nun mit dem Justizministerium den "Kurpfuscherparagraphen" im Strafgesetzbuch verschärfen. Er besagt: "Wer ohne ärztliche Ausbildung eine ärztliche Tätigkeit an einer größeren Anzahl von Menschen gewerbsmäßig ausübt, ist mit Freiheitsentzug von drei Monaten zu bestrafen." Klauseln, die auf Guru Hamer nicht ganz passen. "Gewerbsmäßigkeit" und "größere Menschenzahl" sind ihm schwer nachzuweisen. So nimmt er angeblich kein Geld an und fordert "Ratsuchende" nur zum Kauf seiner Bücher auf.

Hoffnungsvolle Zahlen

Ganz Österreich bangt nun weiter um das Leben der dunkeläugigen kleinen Olivia mit den langen, braunen Haaren. Noch habe sie Heilungschancen, heißt es. Alle seit 1989 in Österreich und Ungarn behandelten Kinder mit einem Tumor im Anfangsstadium konnten geheilt werden; im späteren Stadium, mit Tochtergeschwüren, lag die Erfolgsrate einer Studie zufolge noch immer bei 75 Prozent: Von 16 Kindern überlebten zwölf. Sie haben die belastende Therapie hinter und ein schönes Leben vor sich. Auch für Olivia besteht Hoffnung, bald dazuzugehören.

ARCHIV - 1995
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