Olivia Pilhar: Strafprozeß gegen Eltern
Zeuge Gadner
Zeuge Prof. Dr. Helmut Gadner, geboren 16.08.1940, Arzt, p.A. St.Anna-Kinderspital
fremd, gibt nach WE vernommen an:
Ich bin seit 1980 ärztlicher Direktor des St.Anna-Kinderspital. Meine Spezialität, beruflich gesehen, ist die Behandlung krebskranker Kinder. Ich habe eine Ausbildung über etwa 30 Jahre in diesem Gebiet und habe in diesem Falle als Vorgesetzter im Krankenhaus über bestimmte Ereignisse informiert werden müssen, die der Chef halt wissen muß. Damit war ich, nachdem ich am Montag von einer Kongreßreise nach Wien zurückgekommen bin, im St.Anna über das Vorkommnis informiert worden.
Der StA: keine Fragen.
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Verteidiger Mag. Rebasso: Welche Heilungsprognosen haben Sie damals angestellt, als das Kind erstmals nach St.Anna gekommen ist?
Zeuge: Ich habe Olivia im St.Anna-Kinderspital nie gesehen. Ich habe dort auch nie einen Elternteil gesehen. Ich glaube, eine Woche, nachdem die Familie Pilhar mit Olivia und den Unterlagen von St.Anna weggegangen ist, um eine zweite Meinung einzuholen, hatte ich Gelegenheit, mit Herrn Pilhar am Telefon zu sprechen, wobei ich versucht habe, ihn zu überreden, er möchte doch auch mir eine Chance geben, einmal mit ihm unter vier Augen zu reden. Ich habe die ganze Geschichte von meinen Mitarbeitern gehört und pflege immer, wenn es irgendwie geht, selber ein Gespräch mit den Eltern in den ersten Tagen dieser Diagnose zu führen. Nachdem hier etwas nicht so gelaufen ist, wie es zum Glück meistens geht, war ich umsomehr besorgt und habe mich da selbst einbringen wollen. In diesem etwa 20-minütigen Gespräch gelang es mir nicht, Herrn Pilhar am Telefon dazu zu bringen, mir diese Chance zu geben. Er hat bereits seine Entscheidung getroffen gehabt. Ich habe das Gespräch, das er dann beendet hat, damit geschlossen, daß ich ihm die Tür offenhalten würde und daß er jederzeit kommen könnte, um noch einmal darüber zu reden. Das war es.
Verteidiger Mag. Rebasso: Sind damals keine Prozentzahlen hinsichtlich der Heilungschancen genannt worden?
Zeuge: Ich kann nicht sagen, was die einzelnen Kollegen an Prozenten geäußert haben. Ich kann nur ganz allgemein sagen, daß wir über alle unsere Erfolge, die wir in der pädiatrischen Krebsbehandlung im Laufe der
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letzten Jahrzehnte weltweit erreicht haben, daß eben Krebs im Kindesalter zum Großteil eine heilbare Erkrankung ist, Zahlen kennen. Diese Zahlen, die den Wilmstumor betreffen, werden auch bei solchen Gesprächen geäußert. Diese beziehen sich auf Studien und Dachstudien, die wir in Österreich durchführen. Es kommt darauf an, auf welche Studien man sich bezieht. Die Studien haben ja unterschiedliche Behandlungsvorgänge, die nicht sehr weit auseinander liegen, aber doch kleine Nuancen in der Therapieart, in der Kombination von Medikamenten und in der Vorgangsweise beinhalten; dadurch ergeben sich auch unterschiedliche Daten, in Prozenten ausgesprochen, die in den einzelnen Gruppen um 5 bis 10% schwanken. Das ist nur ein Faktum; das zweite Faktum ist immer noch, daß man eine klare Aussage über die Prognose, rein statistisch gesehen, nur machen kann, wenn man genau weiß, welches Ausmaß dieser Tumor bei Diagnosestellung hat, zu dem Zeitpunkt, zu dem die Behandlung begonnen wird; ob das ein sogenanntes Stadium 1 ist, wo der Tumor ganz klein am Ursprungsorgan behaftet ist, ob es ein Stadium 2 ist, wenn schon das Ursprungsorgan ausladet und nach außen wächst, Stadium 3, wenn schon die Umgebung involviert ist usw. bis zum Stadium 4, wo dann Lungen- oder Lebermetastasen vorliegen. Das sind alles unterschiedliche Krankheitsstadien, die natürlich ganz unterschiedliche Prognosen haben. Es braucht Tage, bis wir diesen Tatbestand fest dokumentieren können. Wir müssen Sonographie machen, eine Magnetresonanz, eine Computertomographie; alle diese Untersuchungen, die am Anfang sehr belastend für Kinder sind, sind dazu da, daß man mit einer weitgehenden Sicherheit das Stadium der Erkrankung zum Zeitpunkt der Diagnose festlegen kann. Wenn die Eltern mit den Fragen zu
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einem Zeitpunkt an die Ärzte herantreten, wo das alles noch nicht in toto erfaßt ist - und das war ja bei Olivia die Schwierigkeit, das rasch innerhalb von ein, zwei Tagen so zu erfassen - dann kann es ohne weiters sein, daß der eine Oberarzt oder eine Stationsarzt, der am Wochenende Dienst hatte, gemeint hat, es ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Stadium 2, ein anderer hat vielleicht gemeint, die Eltern wollen eine globale Information über den Wilmstumor; dadurch ergeben sich Unterschiede. Ich kann Ihnen genau sagen, wie die Stadien in Österreich bei unseren eigenen Behandlungsprogrammen ausschauen, welche Prognose wir dann haben. Wenn ich heute von Ihnen weiß, Sie möchten wissen, wie in Österreich in den letzten sieben Jahren, wo wir 121 Kinder mit Wilmstumor österreichweit gehabt haben und behandelt haben, das Stadium 1 bei diesen Kindern gelaufen ist, wobei 45 Kinder im Stadium 1 waren, kann ich Ihnen sagen, es sind 98% der Kinder, d.h. 44 Kinder heute am Leben und haben keinen Tumor. Beim Stadium 2 sind es 90%, beim Stadium 3 sind es 80% und beim Stadium 4 sind es 76%. Das sind die Zahlen, die wir in Österreich haben. Wenn Sie jetzt eine amerikanische Studie hernehmen, dann sind es vielleicht im Stadium 4 78 oder 80%. Wenn jemand meiner Mitarbeiter sich auf eine amerikanische Studie bezieht und ein anderer auf die österreichische, dann ergeben sich zwangsläufig Unterschiede. Es ergeben sich auch Unterschiede, wenn ich nicht klarlege, welches Stadium ist; und das war zu dem Zeitpunkt sehr schwer. Die Annahme besteht, daß es zum Zeitpunkt der Diagnose mit großer Wahrscheinlichkeit ein Stadium 2 war, aber das kann man nicht beweisen. Später war es ein Stadium 4.
Verteidiger Mag. Rebasso: Zum Zeitpunkt, als bereits feststand, daß man mit der Verabreichung von
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Zytostatika beginnen wollte, mußten ja diese Klarheiten schon hergestellt worden sein.
Zeuge: Dr. Mann hat aus seiner Sichtung aller Unterlagen, die ihm zur Verfügung gestanden sind, an diesem Montag gesagt, für ihn ist es mit großer Wahrscheinlichkeit ein Stadium 2 und wir beginnen diese Therapie- die Chance nach unseren Bemessungen für das Kind ist eine 90%ige, daß es gelingt, diesen Tumor mit Chemotherapie so zu verkleinern, daß wir ihn nachher entfernen können und daß wir nachher nur mehr eine kurze Nachbehandlung brauchen. Das war seine Einschätzung. Die Tage vorher waren noch nicht alle Untersuchungen abgeschlossen. Wenn ein Oberarzt dann gefragt wurde, konnte er das wahrscheinlich in dieser Form nicht sagen; er wird sich halt annähernd an diese Zahlen herangearbeitet haben. Ich glaube, es ist in allen unseren Köpfen, daß der Wilmstumor das Paradebeispiel eines heilbaren krebsartigen Geschehens im Kindesalter ist.
Verteidiger Mag. Rebasso: Sind das im wesentlichen statistische Betrachtungen, die da angestellt werden?
Zeuge: Das sind statistische Betrachtungen. Wir können nie das einzelne Schicksal vorhersehen. Eine Statistik bedeutet entweder Überleben oder Tod, egal, ob das im Einzelfall 100%, 99% oder 20% Chance sind.
Verteidiger Mag. Rebasso: Auf welchen Überlebenszeitraum ist diese Statistik ausgelegt?
Zeuge: Der Wilmstumor ist eine Krankheit, die schon seit Jahrzehnten in den niedrigen Stadien 1 und 2 eine hervorragende Heilungschance hat. Da kann man alte Bücher lesen, die einem nichts über den Wilmstumor, wie er sich verhält, welche Biologie er hat, erzählen; Sie werden sehen, daß der Wilmstumor im Stadium 1 und 2 in den alten
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Büchern bereits mit 80% Heilungschance erscheint. Das ist wirklich, seitdem die Chemotherapie ihren Einzug gehalten hat, der Paradetumor, von dem wir glauben, wir können wirklich helfen.
Verteidiger Mag. Rebasso: Sind Ihnen Fälle bekannt, wo die Verabreichung von Zytostatika letztlich eine Verschlechterung oder Beschleunigung des Krankheitsgeschehens herbeigeführt hat?
Zeuge: Es gibt eigentlich nur diese Verhaltensweise eines Tumors, der als zytostatikaempfindlich eingestuft wird, daß er in den allermeisten Fällen hervorragend auf die Behandlung anspricht, zusammenschrumpft und besser wird. Es gibt in seltenen Fällen den Fall, daß dieser Tumor nicht anspricht. Er wächst weiter, obwohl man die verschiedenen Medikamente gibt, die bei der Mehrzahl der Kinder sehr gut wirken. Es besteht in einzelnen Fällen eine tumorimmanente, also in der Tumorzelle verankerte, natürliche Resistenz gegen die Medikamente, die wir verabreichen. Das kann man nicht vorhersehen. Da gibt es keine Methode, das vorher zu bestimmen. Wir können das nur vom Ansprechen ableiten. Deshalb finden wir ja auch, daß heutzutage diese Chemotherapie vor der Operation einen so elementaren Bestandteil einer Voraussage eines Krankheitsverlaufes darstellt, weil wir, wenn wir den Tumor in toto entfernen, nicht wissen, ob das ein Tumor ist, der auf eine Behandlung empfindlich ist oder nicht. Wir haben nichts zu messen. Wenn wir sehen, wie schön der Tumor zusammengeht, wissen wir, daß es Sinn macht, auch eine Nachbehandlung zu machen. Sterben kann ein Kind natürlich an den Folgen der Chemotherapie. Das ist möglich; aber da sind weltweit Experten unterwegs und sind ausgebildet, die den Umgang mit den Zytostatika gelernt haben. Es kommt
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heute zum Glück praktisch nicht mehr vor, daß ein Kind an den Folgen der Chemotherapie stirbt. Ich möchte nicht ausschließen, daß es nicht ab und zu einmal passiert, in ganz extremen, schweren Fällen, aber daß man durch eine Chemotherapie einen Wilmstumor zum explodieren bringt, ist absurd.
Verteidiger Mag. Rebasso: Auf welchen Zeitraum bezieht sich die Überlebensstatistik?
Zeuge: Die von mir erwähnte Überlebensstatistik beinhaltet die Patienten, die von 1989 bis jetzt in unsere Studie in Österreich eingeflossen sind. Die Daten decken sich mit solchen, die in den USA seit 15, 20 Jahren und auch in Europa verfolgt worden sind. Wir wissen ganz genau, der Wilmstumor hat eine Gefahrenchance von zwei Jahren. Wenn ein Kind zwei Jahre nach Entdeckung und Behandlung dieser Krankheit gesund bleibt, diese zwei Jahre gesund ohne Rückfall durchsteht, dann ist dieses Kind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesund.
Verteidiger Mag. Rebasso: Wenn es sich ausschließlich um den Wilmstumor handelt?
Zeuge: Ja. Jeder Tumor hat seine spezielle Biologie. Es gibt auch beim Wilmstumor sehr ungünstige Formen, die wir ganz anders behandeln müssen und wo wir wissen, daß wir diese Chance nicht haben. Das war auch bei Olivia am Anfang gar nicht so klar, weil wir die Histologie nicht kannten.
Verteidiger Mag. Rebasso: Wenn es sich hingegen darüber hinaus um weitere Krebsgeschehnisse handeln würde, so wären diese statistischen Angaben in der Form nicht gültig?
Zeuge: Nein. Für jede Tumorkrankheit gibt es ein ganz spezielles Krankheitsgeschehen, einen speziellen
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Verlauf, spezielle Aussagen. Es ist ein Fehler, wenn man alles in einen Topf schmeißt. Ich glaube, das muß jemand einmal beweisen, daß eine bestimmte Heilmethode bei einem Wilmstumor wirkt oder nicht wirkt. Man kann nicht sagen, das hat bei vielen anderen Tumoren gewirkt, das wirkt auch bei Wilmstumor.
Verteidiger Dr. Schefer: Sie haben gesagt, zu dem Zeitpunkt, als Sie mit Herrn Pilhar telefonierten, daß dann noch keine Prognose abgegeben werden kann, wenn das alles in toto noch nicht erfaßt ist?
Zeuge: Das ist ein bißchen verdreht. So habe ich das sicher nicht formuliert. Ich habe nur gesagt, solange nicht sämtliche Untersuchungen abgeschlossen sind und solange nicht auch die Bildgebung von qualifizierten Kollegen beurteilt worden ist - das war am Wochenende - solange kann ich nicht 100%ig die Stadienzuteilung machen. Wenn am Wochenende ein junger Kollege in der Radiologie Dienst macht und ein technisch so hochwertiges Bild liefert, was den Tumor anbelangt, dann kann ich mich auf die Aussage und Interpretation eines jungen Kollegen, der nicht einen erfahrenen Kollegen hinter sich hat, nicht 100%ig verlassen. Ich muß hinterfragen. Das war auch der Grund, warum offensichtlich am Wochenende die Kollegen gemeint haben, daß man noch warten muß, nachdem eine Interpretation, die sich nicht mit unserer deckte, auf den Tisch geflattert ist. Zum Zeitpunkt, als Dr. Mann aufs Podium getreten ist, wurde das dann eigentlich geklärt.
Verteidiger Dr. Schefer: Es war aber so, daß meine Mandanten, bevor sie mit Ihnen telefonierten, den ganz sicheren Eindruck hatten, daß die ärztliche Information, die ihnen erteilt worden ist, besagt, man wisse, was es ist, man wisse, wie zu heilen ist, man wisse die Prognose, man wisse
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das Stadium. Sie hingegen sagen, zu diesem Zeitpunkt sei eine Prognose noch nicht abzugeben, wenn noch nicht alles in toto erfaßt ist. Das war der Eindruck meiner Mandanten.
Zeuge: Ich kann das auch verstehen und es tut mir auch leid. Sie müssen sich aber einmal vorstellen, wie das am Wochenende zugeht. Das war ein Feiertag, an dem sie ins Spital gekommen sind. Da ist eine Dienstmannschaft. Am Freitag war die gesamte Mannschaft da, es wurden die Untersuchungen begonnen. Es ist mühsam, diese ganzen Termine zu kriegen. Man wollte sie relativ rasch haben. Am Samstag Vormittag kam wieder eine neue Dienstmannschaft, die zwar von der vorherigen informiert wird, am Sonntag wieder eine neue Dienstmannschaft. Das ist unser Leben. Wir können nicht mehr als 80 Stunden im Wochendurchschnitt arbeiten. Deswegen müssen die Wochenenden halt abgedeckt sein. Das sind kompetente Leute, aber es ist nicht die Kontinuität einer Aussage. Die Variationen, wenn wir das erzählen, sieht man ja hier. Wenn Sie interpretieren, was ich sage, und wenn jemand anderer mich interpretiert, und wenn ich mich selbst interpretiere, dann sind das drei verschiedene Aussagen, wenn man nicht ganz genau aufpaßt; und so passiert es. Der Drang, den wir haben, wenn wir Eltern die Diagnose eröffnen müssen, ist ja schrecklich. Wir sind ja alles Menschen. Stellen Sie sich vor, wir müssen diesen armen Leuten klarmachen, daß ihr Kind, das bisher völlig gesund war, das ihr Lebensinhalt war, an einer bösartigen Krankheit leidet, die mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tod führt, wenn man nicht sofort etwas macht. Dann ist die nächste Frage, was kann man machen. Dann kann man sagen, dies und jenes kann man machen. Wir können helfen, weil wir wissen, daß wir so viele Kinder mit einer bestimmten Heilmethode nachweislich, weltweit geprüft, wirklich vor
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diesem Schicksal retten können. Dann ist man als Arzt froh, zu sagen, das ist zum Glück eine Krankheit, die große Möglichkeiten offenläßt, daß es gutgeht. Dann werden die Eltern fragen, welche Chance das Kind wirklich hat. Der erstbeste wird sagen, die Chance ist hervorragend; und es fällt ihm halt ein, das liegt so bei 80, 90%. Das stimmt ja ganz global. Dann kommt der nächste, und der hat halt die Zahl 70 im Kopf und sagt 70%. Ich glaube, das sind Dinge, die man hier einfach nicht auf den Tisch legen kann. Das ist eine hochsensible und sehr kritische Situation, in der sich die Ärzte befinden, in der sich die Eltern befinden und in der sich das Kind befindet. Das alles unter einen Hut zu bringen, braucht auch Vertrauen, Öffnung. Ich glaube, das muß von beiden Seiten da sein.
Verteidiger Dr. Schefer: Sie sagten, das jeweilige Stadium festzustellen, sei sehr schwer. Dann sagten Sie den Satz "Das kann man nicht beweisen".
Zeuge: Wir haben uns insofern geholfen, als wir in den letzten Jahren ein Therapiekonzept entwickelt haben, das vorsieht, das wir bei allen Stadien während der ersten vier Wochen die gleiche Behandlung machen. Wir gehen davon aus, daß das Stadium selbst nichts über die Empfindlichkeit der Tumorzelle gegenüber der Chemotherapie aussagt. Wir behandeln alle Stadien im ersten Anlauf gleich. Erstens haben wir dann viel Zeit, und nach vier Wochen kommt der Chirurg und operiert. Mit diesem und dem Radiologen besprechen wir alles: welchen Eingriff, wie und wo, was ist das beste für das Kind. Dann wird operiert. Der Chirurg macht dann eigentlich die Stadienzuweisung, die relevant ist; ob neben dem Tumor in der Niere noch Lymphknoten befallen sind. Er holt sich diese Gewebsproben heraus, das wird dann untersucht und dann wird die genaue
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Stadieneinteilung getroffen. Aufgrund dieser Stadieneinteilung haben wir dann die Dauer der nachfolgenden Behandlung. Ob eine zusätzliche Bestrahlung notwendig ist oder nicht, ist davon abhängig. Das ist der Vorgang. Bevor wir diese Therapieform weltweit gewählt haben, haben wir auch in Österreich die Wilmstumoren vor Jahren sofort operiert. Bei dieser Operation wurde die Stadieneinteilung vom Chirurgen mit uns zusammen festgelegt. Heute, nachdem wir die Stadieneinteilung erst nach vierwöchiger Vorbehandlung exakt brauchen, genügt uns die approximative Zuordnung, damit wir den Eltern in etwa sagen können, wir schätzen das als günstig oder ungünstig ein. Ich glaube, da kommt es wirklich nicht darauf an, daß man so exakt ist. Das exakte Vorgehen wird zu einem anderen Zeitpunkt bestimmt.
Verteidiger Dr. Schefer: Können Sie noch etwas hinsichtlich der bekannten Daten bei Wilmstumor nach zehn Jahren sagen?
Zeuge: Ich habe schon gesagt, daß bei 99% der Ereignisse bei Wilmstumoren, wenn eine moderne Behandlung erfolgt, nach zwei Jahren eigentlich nichts mehr passiert, was Rückfall anbelangt. Die Kinder kriegen keinen Rückfall. Die Kinder könnten durch diese Behandlung, die sie in diesem Zustand gebraucht haben, wenn diese besonders aggressiv war oder viel Strahlentherapie inkludiert war oder wenn sie sehr viele Medikamente beinhaltet, von denen wir wissen, daß sie auf lange Sicht Nebenwirkungen verursachen können, unter Umständen später von dieser Behandlung noch Folgen tragen, z.B. wenn eine hohe Bestrahlung im Bereiche der Niere gegeben worden ist, kann es sein, daß dort eine leichte Krümmung der Wirbelsäule reflektiert. Wenn sehr viele Medikamente, die das Herz angreifen, in sehr hohen Dosen gegeben worden sind, kann es sein, daß nach zehn,
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zwanzig Jahren diese Kinder Veränderungen in der Herzleistung haben. Das sind aber Erfahrungen, die wir heute machen bei Kindern, die vor 20, 30 Jahren mit ganz anderen Konzepten behandelt worden sind, weil wir damals das Überleben als solches im Auge gehabt haben. Da hat man noch um das Überleben gekämpft. Heute weiß man, daß man in vielen Bereichen mit dieser Behandlungsintensität zurückgehen kann, sich anpassen an das individuelle, einzelne Kind und seinen Tumor. Das ist, glaube ich, mit ein Grund, warum man diese Chemotherapie vorgeschaltet hat. Das ist eine sehr milde Chemotherapie, die eigentlich nur äußerlich Probleme macht, aber im wesentlichen keine bleibenden Folgen. Wenn man dann das Stadium festgelegt hat, kann man feststellen, daß 50% aller Wilmstumoren zu diesem Zeitpunkt ein Stadium 1 geworden sind, also das günstigste Stadium mit einer ganz kurzen Nachbehandlung und ohne Strahlentherapie. Das ist zur jetzigen Zeit unser Beitrag, um Spätfolgen irgendwelchen Art den Kindern zu ersparen. Wir wollen ja Kinder am Leben halten, die ein glückliches Leben führen können, die gesund bleiben, die sich ihres Daseins und auch ihres Körpers freuen können. Deswegen ist da weltweit ein sehr großes Bemühen, diese Behandlung wirklich an den Tumor und natürlich an das Kind anzupassen. Das gelingt, glaube ich, zunehmend. Wir sehen diese Veränderungen, die wir heute erst entdecken und von denen wir früher nicht gewußt haben, daß sie später zum tragen kommen, eigentlich nicht mehr und werden sie nach allem Wissen, das wir auf dem Gebiet haben, auch nicht mehr sehen.