Angelo Amstutz: Kinderspital an Eltern
KANTON
LUZERN
Kinderspital Luzern
Pädiatrische Klinik
Chefarzt:
PD. Dr. med. G. Schubiger
6000 Luzern 16
EINSCHREIBEN | Luzern, 3. Juni 1996 |
Herr und Frau
Hanspeter und Daniela Amstutz
Obere Wiese 2
6020 Emmenbrücke
Sehr geehrte Herr und Frau Amstutz
Anlässlich der diagnostischen Hospitalisation Ihres Sohnes bin ich Ihnen auf der Chefarztvisite begegnet. Dabei war bereits Ihre kritische Haltung gegenüber der absehbaren chemotherapeutischen Behandlung spürbar. Das haben wir alle als Ihr gutes Recht akzeptiert und Ihnen auch Zeit gelassen, um sich mit der schwierigen Situation auseinanderzusetzen und weitere Informationen zu beschaffen.
Mit Entsetzten habe ich nun aber erfahren, dass Sie sich gegen die anerkannte Therapie der Tumorerkrankung Ihres Sohnes entschieden haben. Wir Kinderärzte fühlen uns verpflichtet, als Anwälte der Kinder aufzutreten, auch Ihres Sohnes! Deshalb kann ich Ihre Entscheidung über Ihren Sohn weder verstehen noch akzeptieren. Nach einigen schlaflosen Stunden fühle ich mich – nicht zuletzt aus juristischen Gründen – zu diesem Brief verpflichtet. Ich möchte Ihnen folgende Punkte zu bedenken geben:
- Die vorgeschlagene Therapieform beruht auf soliden wissenschaftlichen Daten. Kinderonkologen der ganzen Welt vergleichen laufend ihre Therapieformen und werten die Resultate der Behandlung aus. Wenn Sie wirklich das Beste für Ihr Kind wollen, warum vertrauen Sie denn nicht auf derartige Fundamente? Keine andere Therapeutengruppe kann Ihnen ähnliche statistische Zahlen über Therapieergebnisse bei Kinder vorlegen wie das weltweite Netz der Kinderonkologen! Bedenken Sie, dass Kinder nicht kleine Erwachsene sind. Tumorerkrankungen sind in dieser Altersgruppe anders und dürfen nicht mit Therapien bei Erwachsenen verglichen werden. Wenn Sie doch so überzeugt sind, dass andere Therapien besser sind, warum machen Sie – oder Ihre Ratgeber – daraus ein Geheimnis? Sie müssten ja überzeugt sein, dass auch andere Kinder davon profitieren könnten.
- Aus den Gesprächen mit Herrn Dr. Caflisch haben Sie bestimmt bemerkt, dass wir keineswegs stur oder einem falschen medizinischen Ehrgeiz verfallen sind. Der Einfluss der positiven Einstellung zu einer Therapie, die von allen mitgetragen wird, ist ein wichtiger Faktor des Behandlungsverlaufs. Deshalb verzichten wir auch auf vormundschaftliche Schritte, wie sie in anderen Ländern in ähnlichen Situationen unternommen wurden. Wir akzeptieren aus denselben Überlegungen heraus auch komplementäre Maßnahmen während einer Chemotherapie. Entscheidend ist aber die Bereitschaft, dass das vorgeschlagene Behandlungsprotokoll akzeptiert und vom verantwortlichen Arzt während der ganzen Behandlungsperiode bestimmt und geleitet wird.
- Haben Sie sich überlegt, wie Sie mit einem allfälligen Misserfolg der von Ihnen gewählten Form des Umgangs mit der Krankheit Ihres Kindes umgehen werden, nachdem wir Sie klar, offen und mit wissenschaftlichem Zahlenmaterial über die heute optimalste Therapieform aufgeklärt haben?
Ich kann Ihnen folgendes vorschlagen:
- Benutzen Sie doch die Gelegenheit, mit anderen Eltern, die dem gleichen Dilemma wie Sie ausgesetzt waren, zu sprechen. Herr Dr. Caflisch hat entsprechende Kanäle geöffnet: Rufen Sie bitte Frau xxx, an.
- Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Türen unseres Kinderspitals immer offen sind und dass sowohl Herr Dr. Caflisch wie auch ich selbst – wenn Sie das wünschen: Tel. 205 31 51 – zu klärenden Gesprächen bereit sind. Wir tun das im Interesse Ihres Kindes, sonst hätten wir uns schon lange zurückgezogen. Jeder Tag zählt!
Falls Sie tatsächlich andere Wege beschreiten wollen, fordere ich Sie auf, dies auf der beiliegenden Kopie dieses Briefes schriftlich bis zum 15.6.1996 zu bestätigen. Andernfalls muss ich vorsorglich und zum eigenen Schutz das Gesundheitsdepartement unter Wahrung des Patientengeheimnisses informieren.
Mit freundlichen Grüßen