Der Messias ist tot

Focus, 20.06.1994
Reportage
DER MESSIAS IST TOT (pdf)
Mit Rabbi Schneerson, dem Führer der orthodoxen Lubawitscher Juden, starb in New York der „heimliche Regent Israels"

Von Helmut Kuhn

Ein leichter Nieselregen umhüllt die Trauergemeinde. Tausende schwarzer Fedora-Hüte wippen im taumelnden Singsang gemurmelter Gebete. Aus aller Welt sind die gläubigen Chassidim des „Lubawitscher Komitees“ vor der Synagoge am Eastern Parkway 770 zusammengeströmt, um sich vom Undenkbaren selbst zu überzeugen. Hastig hatten die bärtigen Männer der jüdisch-orthodoxen Sekte Flüge aus Tel Aviv, Moskau, Paris und Frankfurt gebucht, als sie die Meldung hörten: Menachem Mendel Schneerson, der siebte und letzte Rebbe der belorussischen Dynastie, ist im Alter von 92 Jahren im Manhattaner Beth Israel Medical Center gestorben. Sonntag, 1.50 Uhr, Eastern Standard Time.

Für die wogende Menschenmasse aber ist dieses Datum relativ. Sie schreiben das Jahr 5754 nach der Zerstörung des Ersten Tempels Salomons in der Heiligen Stadt. Über der Kingston Avenue in Brooklyns Viertel Crown Heights hängt ein Transparent: „Moshiach is coming“, der Messias wird kommen. Doch daran glauben jetzt nur noch die Standhaften. Denn dort oben, in seinem kleinen mahagonigetäfelten Zimmer in der Synagoge, liegt der Messias. Aufgebart, leblos – bereit, die letzte Reise anzutreten.

Als der schlichte Kiefernsarg, geschmückt nur mit dem schwarzen Mantel des Grand Rebbe, an den Jüngern vorbeigetragen wird, durchzuckt es manche noch einmal wie ein Blitz. Wie von Sinnen drängen sie zum Sarg, wollen ihn mit der Hand oder wenigstens mit dem Regenschirm berühren. Sicher, schon seit seinem Schlaganfall vor zwei Jahren war der weißbärtige Mann stumm und halbseitig gelähmt. Und seit dem Herzinfarkt vor drei Monaten lag er im Koma. Aber das?

„Wir sind davon überzeugt, daß der Rebbe auferstehen wird“, versichert Rabbi Shmuel Spritzer von der Lubawitscher Jugendorganisation. „Wir werden uns immer an die Kraft seiner Seele erinnern“, meinte salbungsvoll US-Präsident Clinton. Und verlieh damit dem leiblichen Ende des Mythos eine amtliche Note.

Denn der Rebbe war nicht irgendein Rabbiner: In den 44 Jahren seiner Regentschaft hat er das Lubawitscher Komitee aus einem Häuflein versprengter Holocaust-Überlebender zu der weltweit mächtigsten orthodoxen Gruppierung aufgebaut. Er war der Kommandeur von über 200 000 Jüngern und 1847 Zentren. Das Reich, das er hinterläßt, erstreckt sich von Brooklyn aus über Europa bis nach Südafrika, Australien, Sibirien und den Himalaja. Seine Macht war grenzenlos – seine Offenbarung konnte jede Stunde, jede Sekunde geschehen. Im letzten Jahr haben Übereifrige sie sogar in der „New York Times“ angekündigt.

Aber der stumme Mann ist stumm geblieben. Immer noch legen nachts die Kinder ihre besten Kleider neben das Bett. Sie sind bereit, sollte er auferstehen. Das versuchen auch die Starrköpfigen mit wilden Tänzen in den Straßen zu erreichen. Studenten wälzen die Talmud-Stelle, in der es um die „Wiederauferstehung“ geht. Letzte Sophisterei der vorerst letzten Hoffnung.

Denn akribisch haben die Gelehrten errechnet: Seit der Zeit des Maimonides hat nur ein Mensch in jeder Generation das Potential, die Offenbarung zu bringen. Er wird die Toten auferstehen lassen, alle Juden in das Heilige Land heimführen und dort in der Heiligen Stadt den Dritten Tempel erbauen. In dieser Generation – da waren sich die Lubawitscher sicher – konnte es nur der Rebbe sein.

Mendel, 1973 in Israel geboren, ist einer von rund 30 000 Jüngern des Rabbi Schneerson, die in Brooklyn ihr Leben der nächsten Nähe des Auserwählten verschrieben haben. Mit 15 folgte er seinem Ruf und studierte vier Jahre in Crown Heights die Thora. Danach lehrte er zwei Jahre an einer orthodoxen Schule in Australien. Jetzt bereitet er sich auf das Rabbinat vor, und er darf schon in den Außenstellen zu Rosch Haschana und Jom Kippur, dem neuen Jahr und dem Trauertag, die Zeremonien leiten.

Wäre der Rebbe nicht gestorben, stünde Mendel jetzt wieder mit seinen Freunden Shmuel und Jossele an der Sechsten Avenue in Manhattan. An jedem Tag außer Sabbat sprach er da die Passanten an: „Schalom, sind Sie jüdisch?“ In der Hand die Zeitschrift „Lubawitsch International“, wie die Zeugen Jehovas den „Wachturm“. Wer nein sagte, bekam dennoch ein jiddisches „Sei gesund“ mit auf den Weg. Missionieren will er nur Juden.

Damit bilden die Lubawitscher die Ausnahme unter den Sekten des orthodoxen Judentums. Die „Satmar“ oder die „Boboy“ leben in Brooklyn zurückgezogen in einer Welt des 18. Jahrhunderts. Rabbi Teitelbaum, das Satmarer Oberhaupt, war dem benachbarten Rebbe ohnehin nie grün. Die Querelen zwischen beiden Sekten reichen weit zurück. Während Teitelbaum sich nur um die Reinheit der Seelen bemüht, bekehrte sein Widersacher weltliche Juden. Seine Flotte von 99 „Mitwa Panzern“, ausgebauten Campingmobilen, schwärmt täglich mit je einer Mannschaft von drei Jüngern aus, um neue Mitglieder anzuwerben. Die Glaubens-Armee des alten Mannes patrouilliert weltweit – auch in Israel.

Den heiligen Boden hat Schneerson selber nie betreten. Denn erstens darf ein hoher Rabbiner, einmal in Israel, gemäß der Überlieferung das Land nicht wieder verlassen. Und zweitens glaubte Schneerson, in Brooklyn mehr tun zu können. Mit Recht: In der fernen Diaspora war sein Einfluß wesentlich größer. Andererseits akzeptierte der Rebbe nur ein weltliches Parlament, das in Jerusalem.

Er versuchte oft genug, es zu nutzen: 1988 beschwor er dort sogar eine Regierungskrise herauf, als er seinen Anhängern in Israel riet, für die Splittergruppe „Agudat Israel“ zu stimmen. Die ultraorthodoxe Partei gewann fünf Sitze in der Knesset, weit mehr als erwartet. Der Rebbe wollte die Regierung in die Knie zwingen und seine Version des „Law of Return“ – das Recht eines jeden Juden auf die israelische Staatsbürgerschaft – durchsetzen. Zusammen mit der orthodoxen Partei „Shas“ bildete die Agudat das Zünglein an der Waage. Damals mußte Premier Jizchak Schamir einlenken.

Besonders Amerikas Juden, traditionell eher liberal und für den Staat Israel überlebenswichtig, fühlten sich vor den Kopf gestoßen: „Es war die größte Krise zwischen amerikanischen und israelischen Juden seit der Gründung des Staates“, erklärt Rabbi Eric H. Yoffie, Vizepräsident der jüdisch-reformatorischen Dachorganisation „Union of American Hebrew Congregations“ in New York: „Ich weiß nicht, ob sich Israel je davon erholt hat.“

Auch wenn der Rebbe Crown Heights seit fast 40 Jahren – außer zu gelegentlichen Zwiegesprächen mit seinem Vorgänger und Schwiegervater am benachbarten Friedhof – niemals verlassen hat, so bezeichneten ihn seine Gegner als „den heimlichen Regenten Israels“.

Die Jünger des alten Mannes in Brooklyn beeilen sich, solche Bedenken zu zerstreuen. „Der Rebbe sich gewendet niemals an Politiker“, beteuert Mendel auf jiddisch. Sie suchten seinen Segen, räumt er aber ein. Nur Moishe, Sohn des engsten Schneerson-Vertrauten Yehudan Krinsky und Pressesekretär, gibt zu:

„Der Rebbe war an jedem Prozeß in Israel beteiligt. Im Sechs-Tage-Krieg führten die Soldaten sein Bild in den Panzern mit sich, über die Schulen nehmen wir Einfluß auf die Erziehung.“

Genaugenommen hat Schneersons Truppe sogar New Yorks Politik verändert: Als ein Chassid am 19. August 1991 einen siebenjährigen Farbigen bei einem Autounfall tötete und Fahrerflucht beging, sannen die Schwarzen auf Rache. Während eines Tumults wurde der 19jährige Lubawitscher Yankel Rosenbaum erstochen. Dessen Bruder Norman führte daraufhin einen Feldzug gegen den schwarzen Bürgermeister. In Crown Heights kursierten Flugblätter mit der Aufschrift: „Gesucht wegen Mordes: David Dinkins“. Das Wort „Pogrom“ ging um.

Als Lemrick Nelson, des Mordes an Rosenbaum angeklagt, im November 1992 aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, kam es zu neuen Krawallen. Die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen Schwarzen und Juden eskalierten – geschürt vom republikanischen Wahlkämpfer Rudolph Giuliani, der erstaunlich oft neben Norman Rosenbaum in Crown Heights als Redner auftrat. Die nächste Wahl – 1989 hatte Dinkins nur knapp mit 24 000, meist jüdischen, Stimmen gewonnen – verlor der Demokrat.

Trotz aller Einsiedelei war Schneerson ein Mann von Welt – für orthodoxe Verhältnisse fast ein Ketzer: Er hat in Berlin und in Paris an der Sorbonne studiert, Kant und Hegel gelesen, sich mit Mathematik, Elektromechanik und Atomphysik beschäftigt. In den Cafés des Boulevard St. Michel stritt er über Revolution, Kommunismus und Weltpolitik. Er wußte, sich der Mittel der Moderne zu bedienen: Seine Sabbat-Reden und Talmud-Interpretationen gingen live über Satellit in alle Zentren der Welt, wo sie mitgeschnitten, ausgewertet, archiviert und an Regierungsstellen weitergegeben wurden. Ein perfekter Informationsapparat: Als sich 1986 die Katastrophe in Tschernobyl ereignete, war es ein russischer Chassid, der die Welt davon – via Brooklyn – in Kenntnis setzte.

Vor seinem Herzinfarkt empfing der Rebbe jeden Sonntag Tausende von Menschen am Eastern Parkway, die seinen Zuspruch suchten. Er beantwortete Hunderte von Briefen, und zum Defilée vor der Synagoge erschienen Juden aus aller Welt. Der Grand Rebbe drückte jedem eine Dollar-Note mit seinem Konterfei in die Hand: „Gib es einem guten Zweck.“

Viele suchten nur den Blickkontakt mit seinen stechend blauen Augen. Kein jüdischer Staatsmann, ob Likud oder Arbeiterpartei, kam bei einer USA-Reise um eine Pflichtaudienz herum. Seine Position im Friedensprozeß war unverkennbar orthodox: kein Meter den Palästinensern. Seine Einflußnahme geschah – wie immer – indirekt; beim Defilée in Brooklyn, über verschlüsselte Sabbat-Kommentare, via Satellit in alle 1478 Zentren. Und von dort aus direkt in die Schützengräben. Der Rebbe blies ins selbe Horn wie der in New York ermordete Rabbi Meïr Kahane, die militanten Siedler der Westbank und die Falken in Jerusalem.

Dort, einige Kilometer abseits der Autobahn Richtung Tel Aviv, sitzt Rabbi Berke Wolf in „Kfar Chabad“, einer originalgetreuen Replik der Synagoge am Eastern Parkway 770. In der Bibliothek wurden sogar die Bücherregale aus gleichem Holz kopiert. Der Rebbe wollte das Gebäude. Für den Messias steht der samtüberzogene Sessel immer noch bereit. Bis dahin waltet Berke Wolf an seiner Statt. Täglich pendelt er zwischen der 6000-Seelen-Gemeinde in der Wüste und dem Regierungsviertel. Kein Meter den Palästinensern. Der Rebbe hatte seinen Pontifex maximus mit Autotelefon vor Ort.

Die Zahl der Sympathisanten und Sponsoren des Rebbe ging in die Millionen. Rabbi Krinsky verriet einmal: „100 Millionen Dollar im Jahr, das ist gelinde geschätzt.“ Insgesamt wird das Erbe des alten Mannes auf über eine halbe Milliarde Dollar in Holdings geschätzt.
Den Löwenanteil der Zuwendungen trugen nichtorthodoxe Juden zusammen, die im Rebbe die Verkörperung des wahren Judentums sahen.
„Das Wesen der Lubawitscher trifft den penetranten Schuldkomplex und das Minderwertigkeitsgefühl vieler moderner Juden“, umschreibt es Allen Nadler, Direktor des New Yorker Forschungszentrums YIVO. „Sie spielen auf der Klaviatur der Nostalgie besser als jede andere Gruppe.“

Aber jetzt ist der Unsterbliche gestorben, die Katastrophe eingetreten. Kaum ist sein Leichnahm auf dem Old Montefiore Cemetery neben dem sechsten Rebbe Josef Jizchak Schneerson beigesetzt, das Kaddisch verklungen, schon entbrennt ein Machtkampf um die Nachfolge des weltweit mächtigsten Mannes im orthodoxen Lager. Seit Schneersons Schlaganfall 1992 leitet Rabbi Krinsky kommissarisch die Geschäfte. Er gilt als ein weltlich orientierter Konservativer mit scharfem Blick fürs Busineß.

Doch sein Gegenspieler, Rabbi Lieb Groner, sitzt schon in den Startlöchern. Der charismatische Geistliche setzt auf alte Mähren und Mysterien. Und das Testament, das der Rebbe hinterlassen hat, enthält zu aller Erstaunen keinen Nachfolger. Wieso auch – hätte er zu Lebzeiten einen Günstling auserkoren, er hätte die Grundbedingung seiner Regentschaft ad absurdum geführt: seine eigene Unsterblichkeit.

Das tausendfache Wehgeschrei in Crown Heights gilt somit nicht nur dem toten Oberhaupt, sondern auch der Zukunft der Bewegung: Bald wird das Transparent über der Kingston Avenue wohl eingemottet. „Wir haben mit dem Rebbe unseren Lebensinhalt verloren“, klagt ein jüdischer Kaufmann.

Rabbi Shea Hecht orakelt Dunkles: „Wir werden jetzt durch eine sehr schwierige und schmerzvolle Phase gehen.“ Bis die Nachfolge klar ist, kann ein Jahr vergehen. In dieser Zeit wird sich zeigen, ob die Sekte zusammenhält. Die Enttäuschung sitzt tief: Selbst im Augenblick seines Todes hat sich Schneerson nicht als der ersehnte Messias zu erkennen gegeben.

Schon einmal, im 17. Jahrhundert, als in Polen, Galizien und im damals russischen Lubawitsch die Bewegung der Chassidim begann, sind die Juden einem falschen Messias aufgesessen: dem Mystiker Schabtai Zwi aus Smyrna.

Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer beschrieb den Taumel der osteuropäischen Gläubigen zart und zynisch zugleich in seinem Roman „Der Satan in Goraj“: Männer malträtierten sich bis aufs Blut, verbrachten Wochen und Monate betend ohne Nahrung, um den himmlischen Einzug des Schabtai Zwi auf einem fliegenden Teppich mit einem Löwengespann zu erzwingen. Leider ließ sich Schabtai Zwi vom türkischen Sultan dann dazu überreden, zum islamischen Glauben zu wechseln, schreibt Singer.

Diese Schande hat der alte Mann am Eastern Parkway seinen Jüngern nicht aufgebürdet. Vor einer posthumen Entlarvung als Scharlatan hat er sich abgesichert: „Hat er jemals behauptet, er sei der Messias?“, triumphieren seine wahren Jünger – das Gegenteil hat er allerdings auch nie behauptet.


Siehe auch: Jüdische Reiter. Putin. Apokalypse,
Dr. Hamer an Schneerson